Crescendo bis Fortissimo. Manfred Eisner
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Pause.
„Nein. Kurzum: Dr. Looft kann für Friedrich Winkler so gut wie nichts tun. Es heißt, er befände sich in Schutzhaft. Die deutsche Volksgemeinschaft sei vor diesen Volksschädlingen zu schützen. Dies hat man ihm klipp und klar aus Berlin mitgeteilt. Ein solcher Fall bewege sich zunächst ‚außerhalb des Rechtsweges‘. Erst wenn Anklage erhoben werden sollte, hätte der Angeklagte ein Recht auf Verteidigung. Davor stünde ihm keinerlei Rechtsbeistand zu.“
„Und was wird jetzt aus der armen Frau Winkler? Können wir ihr nicht irgendwie helfen?“
„Um Gottes willen, Weib, halt an dich! Habe ich nicht soeben gesagt, dass wir von nun an sehr vorsichtig sein müssen?“
„Aber Hans-Peter, mach dich doch nicht lächerlich! Es wird wohl noch erlaubt sein, einer alleinstehenden Frau behilflich zu sein!“
„Du verkennst die Lage, meine Liebe. Nicht wenn diese Frau die Ehefrau eines Mannes ist, der unter schwerstem Verdacht steht, ein schlimmes Vergehen gegen diesen Staat begangen zu haben.“
Hilflos stützt Hans-Peter seinen Kopf mit beiden Händen. „Du hast recht, Annette. Sieh dir nur an, auch ich bin schon in Schweiß gebadet, nur bei dem bloßen Gedanken, dieser armen Frau beistehen zu wollen. Aber wir müssen äußerst vorsichtig sein, es hat wirklich keinen Sinn, sich unnötig in Gefahr zu bringen.“
Frau Annette nickt zustimmend.
„Wir müssen unbedingt mit Clarissa sprechen. Sie muss ernsthaft mit Heiko reden. Dieser Trotzkopf wird sich mit seinen offenen Meinungsäußerungen noch fürchterlich den Schnabel verbrennen. Wenn er schon nicht an sich denkt, so muss er es wenigstens für seine Frau und seine Kinder tun.“
„Ja, Annette, stimmt. Ich hatte auch schon daran gedacht. Und ich tue es noch heute, ohne Aufschub. Morgen könnte es schon zu spät sein. Wie bei diesem bedauernswerten Friedrich Winkler.“
* * *
Die beiden jungen Frauen gehen schweigend nebeneinander her. Die eine ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt einen großen Asternstrauß in der Hand. Die Begleiterin, deren Gesicht der schwarz gekleideten Frau zum Verwechseln ähnlich sieht, trägt ebenfalls dunkle Kleidung. Am Friedhof angelangt, öffnet diese das eiserne Tor, über dessen Bogen die Inschrift ‚Ehre den Helden des Vaterlandes‘ ins Auge fällt, und lässt der Schwester den Vortritt.
„Geh du voraus, Gesche.“
Die beiden Frauen gehen wortlos an den zahlreichen Gräbern vorüber, bis sie an ihrem Ziel angelangt sind: das durch eine grüne Hecke eingefriedete Familiengrab der Carstens. Dort befindet sich ein mächtiger, geschliffener, schwarzer Marmorstein, auf dem zu lesen ist:
Siegfried Thode
* 30. Januar 1908
† 11. September 1932
Gesche Thode legt den mitgebrachten Blumenstrauß auf die schwarze Grabplatte. Tränen überströmen das rundliche Gesicht mit den geröteten Wangen und der kleinen, knolligen Nase.
Zwillingsschwester Gesine nimmt sie liebevoll in ihre Arme und versucht sie zu trösten, indem sie ihr zärtlich über das Haar streicht.
„Wwwwwarum mmmmussste denn ausggggerechnet Ssssiegfried stststerben?“, stottert Gesche mit verzweifelter Stimme. „Er wwwar sssso gut zzzu mmmmmir, ich ffffinde dddoch nnnnnie wwwwieder s... sss...“
„Beruhige dich doch, Gesche. Ganz ruhig, meine Liebe, ganz ruhig.“ Während Gesine versucht, ihre Schwester zu trösten, laufen vor ihren Augen die Ereignisse aus dem Jahre 1932 wie ein Film ab.
Gesche Carstens und Siegfried Thode hatten sich 1930 während eines Sommerurlaubs in Saßnitz auf der Insel Rügen kennengelernt. Siegfried stammte von einem Bauernhof in Dithmarschen und war der jüngste Sohn der Familie Thode. Da Gesches früh verwitwete Mutter, die Witwe Carstens, in der Nähe Oldenmoors ein großes Gut, den Uhlenhof, besaß und zudem keine männliche Nachkommenschaft hatte, war die Familie über diese Freundschaft und die daraus entstandene Verlobung hocherfreut. Gesche und Siegfried heirateten kurz nach der Bekanntgabe der Verlobung von Heiko und Clarissa – Gesches und Gesines enge Freunde aus der Kindheit. Clarissa und Rollo, der ebenfalls einer der Spielgefährten und damals schon Gefreiter des Heeres gewesen war, waren die Trauzeugen. Drei Tage lang feierten über zweihundert Gäste und Familienangehörige auf dem Uhlenhof die Vermählung des Paares, das nach der Trauung nach Saßnitz in die Flitterwochen fuhr.
Einige Monate nach der Hochzeit ließ sich Siegfried von Knut Eggers, dem Gutsherrn des benachbarten Holstenhofes, dazu überreden, in die SA einzutreten. Dies hatte eine merkliche Abkühlung der Freundschaft zu Heiko und Clarissa zur Folge, sodass man sich danach aus dem Wege ging. Siegfried engagierte sich zunehmend in der SA und nahm oft an deren Versammlungen teil sowie an den kämpferischen Einsätzen und Auseinandersetzung vor allem mit KPD- und SPD-Anhängern. So geschah es, dass Siegfried bei einem Anschlag auf ein Versammlungslokal der KPD in Brunsbüttel im September 1932 durch das unvorsichtige Hantieren eines seiner SA-Kameraden mit Sprengstoff ums Leben kam.
Gesche war damals im vierten Monat schwanger und der grausame Tod ihres Mannes verursachte eine schwerwiegende Fehlgeburt, an deren Folgen sie beinahe selbst gestorben wäre. Sie erholte sich nur sehr langsam und lebt seit damals zurückgezogen auf dem Uhlenhof. Lediglich ihre Schwester, Gesine, bekommt man gelegentlich in Oldenmoor zu Gesicht.
Von der Wärme und dem Streicheln ihrer Schwester etwas beruhigt, hört Gesche auf zu weinen und trocknet ihre Tränen mit einem Taschentuch. Lächelnd nickt Gesine ihr zu. Die Zwillingsschwestern haken sich ein und gehen gemächlich durch das Friedhofsportal.
Plötzlich bleibt Gesche stehen und sagt zu Gesine: „Wwwwweißt du, an wwwwwwaaaas ich dddenke?“
„Nein, Gesche, an was denn?“
„Wwwas mmeinst du, wwwwennn wir Cl...?“
„Du meinst, wir sollten Clarissa besuchen? Meinst du wirklich? Hast du dir das auch gut überlegt?“
Gesche nickt heftig mit dem Kopf.
„Gut, wenn du es willst. Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns nach alledem mit Freude empfängt. Du weißt ja ...“
„Gggggehen wwwir gleich, ja?“ Gesche wirkt ungeduldig.
„Also einverstanden! Du magst recht haben. Es sind ja inzwischen einige Jahre vergangen!“
Mit neu gewonnener Freude machen sich die Zwillingsschwestern auf den Weg in Richtung „Onkel Suhls Haus“.
4. Lieber Besuch
Clarissa sitzt mit dem kleinen Oliver auf dem Boden und hilft ihm beim Bau einer Burg, die aus hölzernen Bauklötzen entstehen soll. Mit diebischem Lachen und lautem Freudengeschrei bringt Oliver von Zeit zu Zeit eine Wand zum Einsturz, indem er sehr geschickt einen Baustein mit dem kleinen Zeigefinger aus ihr herausdrückt.
Clarissa schüttelt dabei mit gespieltem Bedauern den Kopf, was