Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer. Erik Lorenz

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Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer - Erik Lorenz

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während ich in die Schule ging, Indianerbücher las und nichts tat – für »meine« Indianer. Das Wort hatte mich getroffen. Ich wollte nach Mexiko fahren, um den Präsidenten um Gnade für die Yaqui zu bitten. Aber Pass und Geld fehlten mir. Ich war erst zehn Jahre alt.

      So schrieb ich einen Brief. Er war lang, und ich hatte mir jedes Wort genau überlegt. Einen ganzen Sonntag brauchte ich, um den Brief ins Reine zu schreiben. Mein Vater brachte ihn an die Bahnpost, damit er nicht zu spät käme. Die Adresse lautete: An den Präsidenten von Mexiko in Mexiko.

      Niemand glaubte, dass ich eine Antwort erhalten würde.

      Kurz vor Weihnachten war ich wieder einmal zu spät aufgestanden und stürzte die Treppe über zwei und drei Stufen hinunter, um die Schule noch zur Zeit zu erreichen. An der Haustür prallte ich auf den Briefträger.

      »Ein Brief für dich!«

      Die Marken waren sonderbar – mein Herz begann zu schlagen. Ich ließ Schule Schule sein und jagte wieder die Treppe hinauf.

      Meine Eltern saßen beim Frühstück.

      »Aus Mexiko!«

      Der Brief war spanisch geschrieben. Wir verstanden kein Wort. Abends erfuhr ich den Inhalt. Der Präsident Francisco Madero schrieb dem kleinen Mädchen in Stuttgart, dass er seine Truppen angewiesen habe, menschlich vorzugehen.

      Aber wenige Wochen später wurde Francisco Madero von seinem Gegner Felix Diaz gefangengenommen und während eines Transports »auf der Flucht erschossen«.

      Ich zitterte und horchte auf. So also ging es in der Welt zu.

      Das Jahr verfloss. Mein Spielgefährte Armin sagte zu mir: »Ich habe interessante Bücher. Du musst aber erst deine Mutter fragen, ob du sie lesen darfst. Sie sind von Karl May geschrieben, und Karl May hat im Zuchthaus gesessen.«

      Meine Mutter hatte keine Ahnung, wer Karl May sei. Als sie aber das Wort Zuchthaus hörte, entschied sie: »Diese Bücher liest du nicht.«

      Ich gehorchte.

      »Schade«, meinte Armin. Damit war die Sache abgeschlossen.

      Im Sommer fand ich in Tirol, in einem kleinen Dorf zwischen Bergen, Wäldern und Almweiden, einen weniger wohlerzogenen Spielgefährten. Wir spielten Indianer, und es ist ein wahres Wunder, dass kein Unglück dabei geschah. Unsere Häuptlinge kämpften auf selbstgebauten Flößen mit langen Stangen, die sie für Speere hielten, auf einem Sumpfsee. Ich war Häuptlingsfrau und hütete das Feuer, damit kein Waldbrand entstand.

      »Höre«, sagte mein indianischer Gemahl zu mir, »entweder liest du jetzt Karl May, oder du spielst nicht mehr mit.«

      Am nächsten Morgen saß ich versteckt auf dem Dachboden des alten Bauernhauses und las Winnetou.

      Ich liebte Winnetou, wie ich Unkas geliebt hatte. Old Shatterhand war mir zu eitel und zu selbstgefällig, ich konnte ihn nicht ausstehen. Auch glaubte ich, dass der Schriftsteller gelogen haben müsse, wenn er behauptete, dass ein Apachenhäuptling Madonnenaugen gehabt und nur um seines Freundes Scharlieh willen eine Bahn für den Feind mitten durch das Stammesgebiet fertiggebaut habe.

      Ich beschloss, selbst zu studieren, was in Wahrheit geschehen sei und was für Charaktere jene Indianer gewesen seien, die ihre Heimat und ihre Freiheit verteidigt hatten.

      Ich beschloss, Historikerin und Schriftstellerin zu werden.

      Meine Mutter war sehr geduldig. Jahr um Jahr, Abend um Abend saß sie mir still gegenüber, wenn ich schrieb – und immer wieder schrieb, weil es mir noch nicht gelingen konnte, so zu schreiben, wie ich es mir vorgenommen hatte. Um ein Dichter zu sein, braucht man nicht nur Kenntnisse, nicht nur Phantasie, nicht nur Liebe zu den Menschen – man muss das Leben kennenlernen.

      Meine Mutter wartete und störte mich nicht.

      Ich hatte eine gute Mutter, wenn sie auch nicht immer gewusst hat, was sie tat.

      Als ich die Indianer, meine Freunde, in Kanada und in den Vereinigten Staaten von Amerika besuchen konnte, ruhte meine Mutter schon im Grabe, und ich vermochte ihr nur noch in Gedanken zu berichten, was alles daraus entstanden ist, dass sie eines Tages zu mir gesagt hatte »Es ist ein gutes Buch...«.

      I – Eine vielseitige Frau

      Wissenschaftlerin, Autorin, Mutter

      Äußerlich war sie ganz schlicht –

       man hätte nie gedacht, dass sie eine so große Wissenschaftlerin und Autorin war.

      Es ist einer der vielen sonnigen Tage im Sommer des Jahres 2010, als der Autor dieser Zeilen mit der Straßenbahn durch die Hauptstadt fährt und dabei Zeuge eines Gesprächs zweier etwa zehnjähriger Jungen wird. Sie tragen Flipflops, Sonnenbrillen, bunte Bermudashorts und luftige Shirts; nichts unterscheidet sie von anderen Kindern ihres Alters. Um so überraschender ist ihr Gesprächsthema. Der eine, ein Blondschopf, berichtet seinem Freund begeistert von einer sechsteiligen Bücherserie, die ihm sein Vater vor einigen Tagen geschenkt habe: »Die Söhne der Großen Bärin« von Liselotte Welskopf-Henrich. »So ein alter, vergilbter Schinken aus der DDR«, sagt der Junge, »aber echt genial geschrieben!« Das Interesse des Freundes ist verhalten, er spielt lieber an seinem iPod herum, aber der junge Bücherfreund bleibt in seinem Enthusiasmus unbeirrt und erzählt von den Abenteuern, die der Dakotajunge Harka im ersten Teil zu bestehen hat. Die gemeinsame Leidenschaft der beiden ist das Skateboarden, wie sich etwas später herausstellt, doch im Augenblick begeistert sich der Blondschopf einzig und allein für den jungen Indianer und seine tollkühnen Taten: »Er ist sehr sportlich, aber auch klug«, stellt er fest. »Also wie ich«, entgegnet der andere, spannt die Muskeln, setzt einen in die Ferne gerichteten Denkerblick auf und freut sich.

      Als hundert Jahre zuvor Liselotte Welskopf-Henrich um die zehn Jahre alt war, war die Welt noch eine andere. Eine jahrzehntelange Phase relativen Friedens hatte zu einem beispiellosen Aufschwung der Wirtschaft geführt. Wissenschaftliche Erkenntnisse wie Plancks Quantentheorie, Einsteins Relativitätstheorie oder auch Freuds Psychoanalyse ließen traditionelle Weltbilder einstürzen. Kunst und Literatur standen im Zeichen der Moderne. In Indien wurden zum ersten Mal Briefe mit einem Postflugzeug transportiert. Die Titanic stand kurz vor ihrem Stapellauf. Amundsen und Scott bereiteten ihre Südpolexpeditionen vor. Bald schon würden die letzten »weißen Flecken« von den Landkarten geschwunden sein. Doch trotz allen Fortschritts wuchsen die politischen Spannungen in Europa, die sich im Ersten Weltkrieg entladen sollten, nach dem nichts mehr so sein würde wie zuvor.

      Ähnlich, wie der Blondschopf sich heute für Welskopf-Henrichs Werk begeistert, hatte diese einhundert Jahre zuvor gerade die Bücher von James Fenimore Cooper für sich entdeckt. Durch Berlin, die spätere Heimat Welskopf-Henrichs, fuhr auch damals schon die elektrische Straßenbahn. Doch ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie nicht in der Hauptstadt, sondern in München, wo sie am 15. September 1901 als Elisabeth Charlotte Henrich geboren wurde.

      In ihrer frühen Kindheit spielte Liselotte, wie sie allgemein genannt wurde, oft unter Aufsicht ihres Kindermädchens im botanischen Garten. Am Nachmittag, in

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