Tatort Kuhstall. Thea Lehmann
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Leo nickte und winkte Sascha auffordernd zu, mitzukommen.
»Oh nee, jetzt noch die steilen Treppen hoch, wo ich schon den ganzen Tag gewandert bin«, seufzte der. Schließlich wandte er sich ergeben in die entgegengesetzte Richtung und führte Leo auf einen Pfad direkt zum Fels und an eine Treppe am Fuße einer engen Klamm. Gut gelaunt folgte Leo seinem Kollegen und bestaunte die hoch aufragenden Sandsteinmauern, die hier nur eine etwa eineinhalb Meter breite Schneise freiließen. In dieser Schlucht gingen die beiden, mal auf Treppen, mal auf Felsboden, bergan, bis sie nach einer Linkskurve direkt auf eine ausgetretene Steintreppe stießen. Sascha war völlig aus der Puste, als sie oben ankamen. Leo blickte auf ein Hochplateau mit einem Gasthaus und gemütlichen Tischen auf dem Platz davor. Sascha deutete nach rechts:
»Da geht der Fußweg runter ins Kirnitzschtal. Wir sind jetzt auf halber Höhe. Links liegt der Kuhstall.«
Leo staunte. Das Gelände zur rechten Seite hin war flach und bewaldet, während links von ihm die Sandsteinmauer schroff nach oben ragte. Er stand vor einem beeindruckenden Durchbruch in der Felswand. An dessen Ende sah er ein Geländer und Touristen, die von dort den Ausblick über die Sächsische Schweiz genossen.
»So was nennt ihr Sachsen Kuhstall?«, fragte er entgeistert.
Sascha blieb stehen: »Seit wann genau die Höhle so genannt wird, weiß ich nicht, aber es hat was mit Krieg und Plünderei zu tun. Die Bauern der Gegend haben hier ihr Hab und Gut und ihr Vieh in Sicherheit gebracht. Deshalb heißt sie im Volksmund ›Kuhstall‹. Ihr offizieller Name ist ›Wildensteiner Felsenhalle‹, glaube ich.«
Als sie am Geländer angekommen waren, versuchten sie, unten im Wald Tannhauser und sein Team zu entdecken. Aber die waren, wie Leo und Sascha durch Zurufen feststellten, deutlich weiter rechts.
»Hier ist er demnach nicht runtergefallen.« Sascha drehte sich um: »Komm mit!«
Sie wandten sich vom Kuhstall weg links auf den Weg zwischen Felswand und Gasthaus. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie eine Lücke zwischen den Felsen. Mit Handläufen gesicherte Wege führten an die Außenseite des Felsenriffs.
»Hier lang!« Sascha ging voran, an die rechte Ecke, wo sich der schmale Bergpfad wie ein dünnes Band am Felsen entlangzog. Der Weg zur Idagrotte fiel Leo wieder ein und er weigerte sich, so nah am Abgrund weiter zu gehen. Während er sich krampfhaft am Geländer festhielt, folgte Sascha dem steinigen Pfad und rief nach unten.
»Manni?«
»Hier!« Die Antwort kam immer noch von rechts.
»Wir müssen noch weiter da rüber«, sagte Sascha, wischte sich über die Stirn und führte Leo auf einem Trampelpfad und an einem riesigen Sandsteinkoloss vorbei zu einer neuen Öffnung in der Felswand.
»Hier kommen eigentlich nur die Bergsteiger her«, sagte Sascha und deutete auf die Rettungsbox des Alpenvereins an der Felswand. Der sandige Boden war nur spärlich mit ein paar mageren Fichten und lichtem Gestrüpp bewachsen. Von hier aus war zu erkennen, dass sie auf einem sich verjüngenden Felsriff standen. Links von ihnen ragte die Felswand gut zwanzig Meter in die Höhe und versperrte die Aussicht, rechts sah Leo über das Kirnitzschtal hinweg auf entfernt liegende Höhenrücken mit einzelnen Häusern.
Er folgte Sascha zu einer neuen Schneise in der Sandsteinwand. Hier lagen mehrere Felsblöcke verteilt umher. Einer, der Leo an eine dicke Butterscheibe erinnerte, lehnte sich mit dem oberen Ende an die linke Felswand und bildete mit ihr ein spitzes, etwa drei Meter hohes Tor. Davor und dahinter lagen weitere mannshohe Brocken, aber es war nicht schwierig, über sie hinweg und zwischen ihnen hindurchzuklettern.
Wieder prallte Leo zurück. Zu seinen Füßen ging es senkrecht nach unten. Während Sascha das schmale Felsenband erkundete, das sich nach rechts zog, blieb er unter der gekippten Felstafel stehen und rief nach unten:
»Manni?«
»Bei der Arbeit!«
Diesmal standen sie direkt über ihm. Sascha nickte Leo zu: »Okay. Dann wissen wir jetzt, von wo er gefallen ist.« »Die Stelle am Wilderer hinter der Erste-Hilfe-Box«, brüllte er nach unten.
»Wir kümmern uns drum«, kam es zurück.
Sascha stieg vorsichtig über die Felsen zurück zu Leo.
»Irgendwas Auffälliges kann ich hier aber nicht entdecken. Du?«
Leo riss sich von der Aussicht auf die Baumkronen und das Panorama los und sah sich um. Der Sandboden war so trocken, dass sich keine Schuhabdrücke abzeichneten. Es gab keine herumliegenden Gegenstände, nichts, was zumindest auf den ersten Blick Aufschluss über den Verlauf dieses tödlichen Absturzes gegeben hätte.
»Glaubst du, er ist absichtlich gesprungen?«, fragte er Sascha.
Der zuckte mit den Schultern. »Wird sich erweisen.«
Sie suchten akribisch den Boden und die Felswände ab, konnten aber nicht den kleinsten Hinweis finden. Keine abgelegten Gegenstände oder Kleidungsstücke, keine textilen Spuren an den Felsen, nichts.
»Und wo ist jetzt der Wilderer?«, fragte Leo.
Sascha deutete auf die Felswand rechts vom Durchbruch. Der Fels schien öfter erklommen zu werden, schloss Leo aus den Metallringen, die in ihm verankert waren.
»Hat hier jeder Felsbrocken einen eigenen Namen?«, fragte er.
»Aber sicher!« Sascha nannte ihm ein paar: »Da drüben der Bloßstock, die Brosin-Nadel, weiter hinten der Falkenstein und dahinter die Schrammsteine. Und das sind nur die bekanntesten.«
Sie sperrten den Sandplatz mit dem Polizeiband ab und liefen zurück zum Gasthaus »Am Kuhstall«. Die Angestellten dort waren gerade dabei, den Imbiss zu schließen. Keiner von ihnen konnte sich daran erinnern, am Samstag einen etwa fünfzigjährigen, schlanken Mann mit sandfarbener Hose und Windjacke gesehen zu haben.
»Aber wissen Sie, hier gehen an schönen Tagen Hunderte von Leuten vorbei. Wenn da jemand nicht irgendwie auffällt, dann kann man sich nicht an ihn erinnern.« Leo und Sascha ließen, falls doch noch jemandem etwas zu dem Herrn einfiele, die Nummer der Dresdner Kripo zurück und verließen das Gasthaus.
»So, jetzt aber ab zum Auto, es ist ja schon bald Abend, wir müssen noch nach Rathmannsdorf und ich habe langsam einen Bärenhunger!«
Sie gingen am Gasthaus vorbei auf den ebenen Wanderweg, der direkt von der Kuhstall-Höhle wegführte. Schon bald ging es steil nach unten, zum Teil über Treppen, zum Teil über schottrige Waldwege, bis sie an der leise vor sich hin plätschernden Kirnitzsch ankamen.
Die angegebene Adresse im engen Talkessel von Rathmannsdorf gehörte zu einer hellgrün gestrichenen Gründerzeitvilla. Sie schien rundum renoviert zu sein, doch für Leo passte die Farbe nicht so recht zu den dreieckigen Portalen über den hohen Fenstern und zur verzierten Fassade. Am schmiedeeisernen Gartentor prangte auf einem Messingschild nicht nur der Name »S. Schüppel«, sondern auch der Firmenname »Waldgold GmbH«.
Niemand öffnete, nachdem Leo den Klingelknopf gedrückt hatte. Alle Fenster waren geschlossen,