Kempinski erobert Berlin. Horst Bosetzky

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Kempinski erobert Berlin - Horst Bosetzky

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Veitel Ungar, geboren 1793, kam aus Galizien, wo sich der Chassidismus seit 1750 stark ausgebreitet hatte. Er war aber jedem kabbalistischen Mystizismus abhold und zählte sich zu den Anhängern der jüdischen Haskala, der Aufklärung, wie sie von Moses Mendelssohn personifiziert wurde. 1846 hatte er sich mit anderen reformorientierten Rabbinern in Breslau getroffen. Immer wieder klagte er darüber, an zwei Fronten kämpfen zu müssen: gegen die traditionalistischen Glaubensbrüder, die um die Reinheit des Judaismus und den Zusammenhalt des jüdischen Volkes fürchteten, und gegen alle Deutschen, die sich der Emanzipation der Juden widersetzten. Dass der Ewige ihn nach Ostrowo befohlen hatte, empfand er als arge Strafe, und oft hatte er den 7. Vers des 6. Psalms im Sinn: Matt bin ich in meinem Seufzen, ich mache schwimmen in jeglicher Nacht mein Bett, mit meinen Tränen mein Lager zerfließen.

      Raphael Kempinskis engster Freund aber war der Raschkower Apotheker Eduard Schlüsselfeld, rund vierzig Jahre wie er und evangelisch getauft, was in Posen einen gewissen Seltenheitswert besaß. Seine Vorfahren kamen aus der Nähe von Ansbach und hatten sich schon immer als waschechte Preußen gefühlt. Als die Provinz Posen 1815 an Preußen gefallen war, hatte sich sein Vater aufgemacht, um jenseits der Oder eine neue Heimat zu finden. Die alte war ihm zu eng geworden. Er sah sich als Kämpfer – für die Germanisierung der Provinz Posen, gegen den vorherrschenden Katholizismus. Eduard Schlüsselfelds Statur aber hatte wenig Germanisches an sich, denn er war ein fast zwergwüchsiger kahlköpfiger Pykniker, dessen mächtiger Bauch jeden Knopf vom weißen Kittel sprengte, mochte das Mädchen ihn auch noch so fest angenäht haben.

      Die Kinder saßen natürlich an einem Extratisch, doch Berthold Kempinski hatte die Rolle des Mundschenks übernommen, und so konnte er die Tafel ständig umrunden und lauschen, was die Erwachsenen so redeten.

      Landrat Gnadenfroh hielt eine Eloge auf Bismarck. »Ohne ihn hätten sich die Deutschen vor den österreichischen Karren spannen lassen und gegen Russland mobil gemacht. Dann wäre der Krimkrieg auch zu uns nach Posen gekommen und hätte Raschkow verwüstet. Ich hebe mein Glas auf sein Wohl. Und auf das der Hohenzollern.«

      »Bismarck mag ja noch angehen«, wandte Dr. Dramburger ein. »Aber die Hohenzollern … Es ist schon ein Elend, wie Friedrich Wilhelm IV. ein modernes und demokratisches Deutschland verspielt hat. Lehnt der Mann die Kaiserkrone ab! Ungeheuerlich. Man munkelt in Berlin, er sei geisteskrank.«

      Gnadenfroh fuhr auf. »Ich muss mir das verbitten!«

      Raphael Kempinski lachte. »Ja, das musst du, Gustav, sonst wird dich der Teufel holen, der Manteuffel.« Damit spielte er auf die Gesinnungsprüfung für Beamte an, die der preußische Ministerpräsident Otto Freiherr von Manteuffel nach der Märzrevolution von 1848 durchgesetzt hatte.

      Die Männer diskutierten noch einige Zeit über die Deutsche Frage und waren einheitlich der Meinung, dass die nächsten Jahrzehnte vom Kampf zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland gekennzeichnet sein würden.

      »Das wird nicht ohne Krieg abgehen«, sagte Friedrich Wilhelm von Kraschnitz. »Aber Preußen wird siegen, und die deutschen Staaten werden nicht umhinkönnen, sich Preußen anzuschließen – und es wird ein Deutsches Kaiserreich geben. Mit Berlin als Hauptstadt.«

      Berthold Kempinski hatte als Kind geglaubt, die Erde sei eine kleine Scheibe um Raschkow herum. Auf der einen Seite reichte sie bis zur Stadt Posen, auf der anderen bis nach Breslau. Dahinter kam der Rand, und man fiel in die Hölle, sollte man weitergehen. Erst langsam hatte er begriffen, dass die Scheibe viel größer war, und nicht Raschkow war ihr Mittelpunkt, sondern Berlin. Mit zwölf Jahren wusste er natürlich, dass die Erde eine Kugel war, und wenn die Erwachsenen nun davon sprachen, dass Berlin in den nächsten hundert Jahren der Nabel der Welt werden würde, sah er sich darin bestätigt. Aus dem Geschichtsunterricht wusste er, dass jeder Bürger des gewaltigen Römischen Reiches sein Glück nur in Rom selber finden konnte. Wer anderswo lebte, der lebte nicht eigentlich. Und im Deutschen Kaiserreich würde es nicht anders sein. Entweder man ging nach Berlin, oder man verschlief sein Leben. Er nahm es als Omen, dass Berlin und sein Vorname die ersten drei Buchstaben gemeinsam hatten.

      Veitel Ungar, über drei Ecken mit den Kempinskis verwandt, kam das Stichwort Berlin sehr gelegen, und er berichtete von seinem jüngsten Besuch in der preußischen Residenz.

      »Sie haben letztes Jahr den Tempel der Jüdischen Reformgemeinde in der Johannisstraße geweiht, und mein Freund Samuel Holdheim ist erster Rabbiner geworden. Die Liberalen wollen in der Oranienburger Straße eine riesige neue Synagoge bauen.«

      Dr. Dramburger winkte ab. »Sollen sie lieber Fabriken bauen, das bringt mehr Segen für alle, Lokomotivfabriken vor allem, damit wir endlich eine Eisenbahn nach Raschkow kriegen, auch gegen den Widerstand unserer Gräfin. Wenn man in fünf Stunden in Berlin sein könnte …«

      Berthold Kempinski erhoffte sich nichts sehnlicher. Gleichzeitig hatte er Angst vor Berlin. Das war ein Moloch, der ihn verschlang. Wie hieß es immer: Der Mensch versuche die Götter nicht. Wenn er sich irgendwo zurechtfinden und durchs Leben schlagen konnte, dann vielleicht in Adelnau und Ostrowo, vielleicht auch noch in Breslau, aber nie und nimmer in Berlin.

      Die Runde fragte den Rabbiner, was es denn in Berlin Neues gäbe.

      »Nu, sie haben da Säulen auf den Straßen.«

      »Ja, Kotsäulen«, rief Raphael Kempinski. »Von den vielen Hunden.«

      »Nein, mit Reklame drauf.«

      »Für Hundefutter?«

      »Wirst du mich wohl ausreden lassen! Hohe Säulen aus Blech, die ein Herr Litfaß aufstellt, damit man Plakate drauf anschlagen kann.«

      »Und was ist drin?«

      »Was soll drin sein? Luft.«

      »Keine Bedürfnisanstalt?«

      »Nein. Die Pissoirs stehen daneben, sehen aus wie antike Rundtempel und haben eine Palmettenbekrönung.«

      Berthold Kempinski konnte es nicht fassen. In Berlin erleichterten sie sich nicht in hölzernen Buden, sondern in kleinen Tempeln. Was für eine herrliche Stadt musste das sein!

      Friederike Gnadenfroh bemühte sich nun, das Niveau der Tafelrunde wieder etwas zu heben, und fragte, ob denn jemand schon den neuen Roman von Joseph Victor von Scheffel gelesen habe.

      Nein, den Roman Ekkehard kannte niemand, Friedrich Wilhelm von Kraschnitz nutzte aber die Gelegenheit, um auf Gustav Freytag und dessen neuestes Werk Soll und Haben hinzuweisen. »Den Freytag kenne ich noch aus der Zeit, als er Privatdozent an der Universität in Breslau gewesen ist. Bis 1847, glaube ich. Jetzt sitzt er in Dresden, und sein Freund Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha hat ihn zum Hofrat gemacht.«

      Veitel Ungar verzog das Gesicht. »Soll und Haben ist ein übles Machwerk und sollte vom König verboten werden, weil es Hass und Zwietracht sät. Der deutsche Kaufmann wird bei ihm als tüchtig und redlich, der jüdische als faul und betrügerisch dargestellt, und die polnische Landbevölkerung erscheint als eine Schar von halbwilden Barbaren.«

      »Ich habe gehört, dass es ihm nur um das aufstrebende deutsche Bürgertum geht«, sagte Landrat Gnadenfroh. »Daran kann ich nichts Verwerfliches finden. Und wenn ich an unseren polnischen Hausmeister, den Kadschinsky, denke, dann kann ich ihm so unrecht nicht geben. Der zieht eine derartige Wodkafahne hinter sich her …«

      »Auf meine Polen lasse ich nichts kommen!«, rief da von Kraschnitz. »Das bin ich meinem Freund Antoni schuldig.«

      Fürst Anton Heinrich Radziwiłł, geboren 1775

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