Kempinski erobert Berlin. Horst Bosetzky
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»Begraben ist er aber im Dom zu Posen«, sagte von Kraschnitz. »Und oft genug pilgere ich dorthin.«
»Posen ist eine Totgeburt«, sagte Schlüsselfeld. »Polen und Deutsche sollten getrennt leben und wirtschaften.«
»Wir Juden sind doch die verbindende Klammer«, rief Veitel Ungar.
»Und der ungarische Wein«, fügte Raphael hinzu.
»Nicht zu vergessen: das deutsche Beamtentum.« Das zu betonen, konnte sich der Landrat nicht nehmen lassen.
»Ausgerechnet Sie mit Ihrem Kastengeist!«, protestierte Dr. Dramburger. »Immer neue Heerscharen von Beamten schickt Berlin nach Posen und verschärft damit nur die Trennung der Gesellschaftsklassen.«
»Das Deutsche wird sich alsbald durchsetzen«, sagte Schlüsselfeld, »denn der Deutsche hat die überlegene Technik. Gerade hat Robert Wilhelm Bunsen herausgefunden, wie man mit Hilfe der Elektrolyse Aluminium herstellen kann.«
Berthold Kempinski wurde vom Vater in den Keller geschickt, um neuen Wein zu holen. Ihm schien, dass die Erwachsenen die Welt nur ertragen konnten, wenn sie tranken. Somit hatte derjenige, der mit Weinen handelte, immer ein gutes Auskommen.
Irgendwie lag es ihm im Blut. Schon als Siebenjähriger hatte Berthold Kempinski nichts lieber als Gasthof gespielt. Im Hof des väterlichen Haus stand ein alter Küchentisch, an dem man im Sommer hin und wieder speiste und an dem die Mutter und die größeren Kinder Brechbohnen schnipselten, die Steine aus Kirschen und Pflaumen pulten, rote und weiße Johannisbeeren von den Rispen streiften und Kartoffeln schälten. War dieser Tisch einmal frei, stibitzte er sich ein altes Bettlaken, um es als Tischdecke zu nutzen, und schaffte angestoßene Teller und Gläser herbei, auch verbogene Gabeln und Löffel und stumpfe Messer. Dann war er Gastwirt, Koch und Ober in einem und brachte seinen Gästen alles, was deren Herz begehrte.
»Für mich bitte den Hirschbraten mit Preiselbeeren und den passenden Rotwein dazu«, verlangte Moritz, sein älterer Bruder.
Berthold beeilte sich, alles so schnell wie möglich zu servieren. Ein Stück dunkles Brot wurde zum Hirschbraten, ein Klacks Kirschmarmelade kam als Zierde hinzu. Die Salzkartoffeln waren sogar echt und vom Mittagessen übriggeblieben, auch der Kirschsaft, der den Rotwein ersetzte, konnte getrunken werden.
»Sind der Herr zufrieden?«, fragte Berthold.
»Sehr wohl.«
»Danke.« Berthold machte eine leichte Verbeugung.
Sein Freund Ludwig Liebenthal war weniger anspruchsvoll als Moritz und begnügte sich mit einer Erbsensuppe. »Die kann auch ohne Speck sein.«
»Nein, nicht doch, Sie sollen sich bei mir fühlen wie der Herr Baron von Kraschnitz. Also mit viel Speck.«
Die Suppe wurde aus Wasser, vorzeitig vom Baum gefallenen kleinen Kastanien, zerriebenen Blättern und Brennnesseln zusammengerührt, als Speck musste zerstückelte Kiefernborke dienen.
Ludwig Liebenthal, der ewig hungrig war, verzog das Gesicht. »Da ist ja nichts bei, was man wirklich essen kann.«
Berthold Kempinski zeigte sich bestürzt. »Oh, das tut mir unendlich leid, und ich bitte vielmals um Verzeihung. Kann ich Sie vielleicht milder stimmen, mein Herr, wenn ich Ihnen einen köstlichen Nachtisch und ein wohlschmeckendes Getränk serviere, ohne dass Ihnen das berechnet wird?«
Ludwig Liebenthal gab sich so hochnäsig wie der Landrat Gnadenfroh. »Ja, ich bitte darum.«
Berthold Kempinski ging in die Küche und erbettelte für den Freund aus dem Armenhaus eine Schale Grießpudding mit Kirschkompott und ein Glas mit Stachelbeersaft.
»Ich hoffe, Sie damit zufriedengestellt zu haben.«
»Sie hoffen nicht umsonst, mein Lieber.«
»Dann empfehlen Sie uns bitte weiter.«
Berthold Kempinski war glücklich, wenn die anderen zufrieden waren. Wie man sprach und wie man sich gab, hatte er sich bei den Festen abgesehen, die sein Vater hin und wieder veranstaltete, aber auch, wenn er von den Eltern ab und an in ein Restaurant mitgenommen wurde. Sein Vater belieferte viele Gaststätten im Landkreis Adelnau mit ungarischem Wein und mit Delikatessen vom Balkan und musste dementsprechend oft einkehren, um die geschäftlichen Kontakte zu pflegen.
Rosalie Kempinski freute sich über die Leidenschaft ihres jüngsten Sohnes und hätte ihn im späteren Leben gern als Gastwirt gesehen, der Vater aber war davon weniger begeistert. »Der Junge hat mehr im Kopf, als den Leuten Lungenhaschee an den Tisch zu bringen, der soll einmal studieren und was Besseres werden, wie oft soll ich das noch wiederholen, ein richtiger Arzt.«
Aus der Stadt Posen hatte man den Kommissarius Wilhelm Owieczek nach Raschkow geschickt, um den Mord an dem Regierungsreferendarius Sigismund von Schecken aufzuklären. Owieczek war 45 Jahre alt und voller Ehrgeiz, obwohl ihm ein Asthmaleiden die Karriere zu verbauen drohte. Bei den Ulanen hatte man ihn deswegen aussortiert. Wegen seiner Figur, die man schwerlich noch als untersetzt bezeichnen konnte, und seines ständigen Schnaufens hieß er bei seinen Kollegen nur »das Dampfross«.
Schnell hatte sich seine Anwesenheit herumgesprochen, aber obwohl viele Raschkower seine Nähe suchten, um ihre Bedeutsamkeit zu unterstreichen, tappte er auch nach drei Tagen intensiven Nachforschens noch immer völlig im Dunkeln. Neider und persönliche Feinde schien von Schecken nicht gehabt zu haben, zumal er erst zwei Wochen zuvor als Revisor in die Stadt gekommen war. Notizen hatte sich von Schecken keine gemacht, und Owieczek waren auch keinerlei Gerüchte zu Ohren gekommen, dass der Stadtkämmerer und der Bürgermeister vielleicht Gelder unterschlagen haben könnten, was ein Mordmotiv gewesen wäre. Die Deutschen hingegen flüsterten, dass die Polen es getan hätten, um ein Zeichen zu setzen: Noch ist Polen nicht verloren, und wir werden uns niemals mit der Fremdherrschaft in Posen abfinden. Doch auch hier verlief jede Spur im Sande. Lange hatte er einen gewissen Pjotr Klodzinski aus Ostrowo in die Mangel genommen, doch dessen Alibi war nicht zu erschüttern gewesen: Zur Tatzeit hatte er bei Friedrich Wilhelm von Kraschnitz gesessen und Rotwein getrunken. Zeugenaussagen gab es keine, fest stand nur, dass Sigismund von Schecken mit einer Axt erschlagen worden war und Berthold Kempinski seine Leiche gefunden hatte. Der Knabe war der Einzige, an den sich Wilhelm Owieczek halten konnte.
Und so war es nicht verwunderlich, dass Berthold auch an diesem Nachmittag wieder Besuch vom Kommissarius bekam.
»Junge, überleg’ doch noch einmal ganz genau, wem du …«, Owieczek musste kurz abbrechen, weil ihm die Luft wieder einmal knapp zu werden drohte, »… wem du beim Gang zum Referendarius alles begegnet bist.«
»Nur dem Lehrer Hohensee.«
»Ach, das ist doch ein alter Mann, der kann doch keine Kraft mehr haben, eine Axt zu schwingen.«
»Wenn er uns mit der Haselrute haut, dann beißt das aber ganz