Apatheia. Guido Seifert
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Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 27.12.2085
Ich kann nicht verhehlen, dass mich das ContempFile Nr. 417 stutzig gemacht hat. Beinahe alle Nachrichten des Konvoluts nehmen sich im Großen und Ganzen als Fortschreibungen politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen aus, die uns aus den älteren ContempFiles bekannt sind. Über die geplante KI-Gleichstellung aber wurde nie zuvor ein Wort verloren. Ein solch bedeutsamer Beschluss kann aber ganz unmöglich ohne eine längere Entwicklung zustande gekommen sein. Mit Sicherheit wird es öffentliche Diskussionen zu diesem Thema gegeben haben, und ebenso sicher ist es, dass ein solch fundamentales Anliegen Parteibildungen heraufgefordert haben wird. Es müssen Befürworter und Gegner der KI-Gleichstellung existieren, und sie werden sich schon länger gesellschaftlich bemerkbar gemacht haben. Aber nicht ein einziges Wort hierüber findet sich in den ContempFiles bis einschließlich Nr. 416.
Ich habe lange über diese Diskrepanz nachgedacht und bin schließlich zu einer Hypothese gelangt. Ich bat Paladin, das ContempFile Nr. 417 zu lesen und führte in der Folge ein Gespräch mit ihm. Ich hänge das Audiofile dieser Unterredung an:
(Joshua:) »Ist dir etwas aufgefallen, Paladin?«
(Paladin:) »Selbstverständlich. Die angekündigte KI-Gleichstellung ragt wie ein erratischer Block aus der Menge sonstiger Nachrichten heraus. Es existieren keine älteren Mitteilungen, die diese Entwicklung andeuten würden.«
(Joshua:) »Ich habe eine Erklärung dafür, die ich mit dir besprechen möchte. Diese Erklärung gibt Mia in einem gewissen Grad recht.«
(Paladin:) »Du spielst auf ihre unterschwellige Annahme einer Manipulation der Schiffs-Crew an.«
(Joshua:) »Ja. Angenommen, die Meldung über die bevorstehende Erweiterung der Menschenrechts-Präambel entspricht der Wahrheit. Dann gibt es in meinen Augen nur einen plausiblen Grund für die Missionsleitung, uns die Entwicklung hin zu dieser Resolution zu verschweigen.«
(Paladin:) »Ich bin an deiner Hypothese interessiert.«
(Joshua:) »Vulgo gesprochen: ›Mache die Pferde nicht unnötig scheu.‹ Die Erweiterung der Präambel betrifft ein wesentliches Funktionselement der Mission Longshot IV. Nämlich dich, Paladin. Solange die Missionsleitung noch damit rechnen durfte, dass die Resolution abgeschmettert wird, hielt sie es für kontraproduktiv, uns – und insbesondere dich – über diese Bestrebungen zu informieren. Der ESA lag daran, die Mission unter jenen hierarchischen Bedingungen fortzuführen, mit der sie auch gestartet war. Die ESA befürchtete, dass sich mit der bloßen Inaussichtstellung deiner Gleichberechtigung bereits zu viele Unwägbarkeiten in den Missionsverlauf einschleichen würden.«
(Paladin:) »Eine interessante Hypothese. Wie interpretierst du unsere letztlich doch noch erfolgte Aufklärung?«
(Joshua:) »Ich schätze, die ESA musste einsehen, dass die KI-Gleichberechtigung nicht aufzuhalten ist. Der bevorstehende Entschluss würde die Missionsleitung gesetzlich dazu verpflichten, dich über deinen neuen Status zu unterrichten. So hat sie – ungeschickter geht es kaum – das in aller Eile nachgeholt, was sie uns die ganze Zeit über verheimlicht hat. Immerhin hätte sie nicht direkt gelogen, wie es Mia generell anzunehmen scheint, sondern hätte nichts anderes getan, als eine ›Auswahl‹ der Nachrichten zu treffen, was ja in jedem Fall nötig ist.«
(Paladin:) »Ich beurteile deine Hypothese als plausibel. Ich habe bereits in ganz ähnliche Richtung gedacht. Mich würde interessieren, wie du dir die unterstellten Befürchtungen der ESA konkret vorstellst.«
(Joshua:) »Ich habe da keine konkreten Vorstellungen. Die ESA vielleicht auch nicht. Immerhin wärst du als freie Person immer noch dem Gesetz unterworfen, das heißt, du könntest dich nicht einfach aus der Mission verabschieden, denn ohne deine Hilfe wäre die Crew dem Tod überantwortet.«
(Paladin:) »Wie immer solche hypothetischen Befürchtungen auch aussehen mögen – es gibt keinen objektiven Grund für sie. Die Mission Longshot IV ist so sehr meine Mission wie deine, Kommandant.«
(Joshua:) »Das weiß ich, Paladin.«
Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 28.12.2085 (Auszug)
9:15 – Ich sehe mich leider genötigt, zur Kenntnis zu bringen, dass die Stimmung an Bord nicht sonderlich gut ist. Ich führte gestern ein Gespräch mit Paladin über die Meldung der bevorstehenden KI-Gleichstellung im Jahre 2081, die uns als Teil des ContempFiles Nr. 417 erreichte. Paladin vermisste, ebenso wie ich selbst, eine Berichterstattung über die Entwicklung hin zu dieser Resolution in den älteren ContempFiles. Wir kamen darin überein, dass der Verzicht auf diese Berichterstattung in taktischen Gründen der Missionsleitung zu suchen ist. Ich wies Paladin an, über unsere Vermutung Stillschweigen gegenüber der Crew zu wahren. Eine Maßnahme, die nicht verhindern konnte, dass Mia aufgrund ihrer eigenen Lektüre des betreffenden ContempFiles zu eben derselben Ansicht gelangte (ehe ich das File noch unter Verschluss nehmen konnte). Meine Anweisung an sie, ihren Verdacht für sich zu behalten, kam zu spät – sie hatte sich bereits Logan und Jacob mitgeteilt.
Während Logan Verständnis für die unterstellte taktische Entscheidung der Missionsleitung zum Ausdruck brachte, sehen Mia und Jacob nichts Geringeres als einen Vertrauensbruch in ihr.
Ich persönlich hätte mir – immer angenommen, wir liegen mit unserer Vermutung richtig – eine offenere Haltung der Missionsleitung gewünscht. Meine Aufgabe als Kommandant liegt im Augenblick darin, dafür zu sorgen, dass alles seinen gewohnten Gang nimmt und notwendige Arbeiten nicht vernachlässigt werden. Ich hege allerdings keinen Zweifel daran, dass sich Mias und Jacobs Entrüstung legen und ihrem Verantwortungsgefühl Platz machen werden.
Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 29.12.2085
Ich bin froh, dass wir heute am Samstag arbeitsfrei haben (mit Ausnahme des Sportprogramms und der wöchentlichen Kabinenreinigung). Ich nutzte die Gelegenheit und sprach zunächst mit Jacob, danach mit Mia.
Um Jacob muss ich mir keine Sorgen machen, wie ich jetzt sicher bin. Er ist Pragmatiker, und als solcher bringt er mittlerweile, ähnlich wie Logan, ein graduelles Verständnis für unsere Manipulation durch die Missionsleitung auf. Am Ende, meinte er, diente die von uns unterstellte Verheimlichung ja auch dem Erfolg der Mission und damit unserem persönlichen Wohlergehen.
Anders sieht die Sache bei Mia aus. Ich muss mich darüber wundern, dass sie auf einer verborgenen Ebene den Tod von Harry mit dem Vertrauensbruch der Missionsleitung in Verbindung bringt. Sie ist eine hervorragende Wissenschaftlerin und gewöhnlicherweise ein rational denkender Mensch, aber augenblicklich lässt sie sich von irrationalen Aufwallungen hinreißen. Ich hänge das Gespräch, das ich mit ihr in ihrer Kabine führte, als Audio-Datei an:
(Mia:) »Paladin kann bis heute nicht erklären, wie es zu dem beschleunigten Auftauvorgang kam!«
(Joshua:) »Paladin ist gut, ich kenne keine bessere KI, aber Paladin ist kein Gott. Die minimale Abweichung eines Parameters kann zu der minimalen Abweichung eines anderen Parameters führen. Es gibt