Unterirdisches Österreich. Johannes Sachslehner
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Erbaut für das Geheimprojekt „Quarz“: der Stollenkomplex bei Loosdorf.
Angesichts der gewaltigen Immobilienfülle, die es zu bewirtschaften gilt, sind die Stollen für die BIG zwangsläufig nur ein Randthema – allerdings eines, wie sich rasch zeigen wird, mit Potenzial für Ärger und hohe Kosten. Für Karl Lehner, den „Ein-Mann-Betrieb Stollen“, beginnt mit dem Jahreswechsel 2000/2001 jedoch vorerst ein Abenteuer, eine Entdeckungsreise in unterirdische Welten, von deren Vielfalt und Ausdehnung, von deren dramatischer Geschichte und schicksalsschwerer Bedeutung für Zehntausende von Menschen er an diesem Anfangspunkt noch kaum etwas ahnt. Das Auffallende an der wie erwähnt in aller Eile erstellten Liste ist, dass sie gleichsam klinisch frei von Begleitinformation ist – da gibt es keinerlei Hinweise auf die historische Bedeutung einer Stollenanlage, ihr Status im Rahmen der NS-Luftschutzbauten bzw. der Rüstungsindustrie verbirgt sich hinter nüchternen Grundstücksnummern und Einlagezahlen und selbst diese sind nicht immer verlässlich: Da sind inzwischen Grundstücke zusammengelegt oder geteilt worden, Änderungen bei den Katastralgemeinden nicht berücksichtigt. Nicht selten wird daher die bloße Lokalisierung eines Stollens zur Herausforderung für das detektivische Gespür von Projektleiter Karl Lehner und seinen Helfern. Die Stollen sind wie erwähnt für ihn absolutes Neuland – ein Aufgabenbereich, der ihn nun auch unter Tag beschäftigen wird. Einer der ersten Schritte: sich vertraut machen mit dem traditionellen Wortschatz des Bergbaus. So nennt sich der Eingang zu einem Stollen „Mundloch“, die unterirdischen Röhren werden nicht gegraben, sondern „aufgefahren“, man begeht Stollen auch nicht, sondern „befährt“ sie, und wenn man am Ende eines Stollens angekommen ist, steht man vor seiner „Ortsbrust“; man blickt nicht zur Decke, sondern zur „Firste“; die Stollenwand nennt sich gar „Ulme“; „Überlagerung“ bezeichnet die Stärke des Gebirges über dem Stollen. Karl Lehner lernt schnell, bald ist er mit diesem Vokabular auf Du und Du.
Kein Spielraum für Interpretationen
In diesem Schwebezustand der Unklarheiten tut sich wenige Wochen später Entscheidendes: Die Unterlagen zu den Stollen – aus dem Wirtschaftsministerium ist dazu ein ansehnlicher Akt, u. a. auch mit den OGH-Urteilen, eingetroffen – stapeln sich auf den Schreibtischen der BIG-Rechtsabteilung. Nach erster Durchsicht wird rasch klar: Hier gilt es in der Sekunde zu handeln! An den beiden zum Stollenthema vorliegenden OGH-Entscheidungen werde man nicht rütteln können, um das enorme Haftungsrisiko zu senken, müsse man sofort alles tun, was das Gefahrenpotential verringern könne. Fix ist: Die Stollen sind nicht mehr im Eigentum des Bundes, die Sorgfaltspflicht als Eigentümer, das ist jetzt allen schmerzhaft klar bewusst, liegt von nun an bei der BIG, sie muss von nun an auch für die Kosten allfälliger Sicherungsmaßnahmen aufkommen. Auch tritt die BIG mit der Übernahme der Eigentümerschaft an den Stollen in die „Rechtsverhältnisse des Bundes mit Dritten“ ein, sie übernimmt also allfällige bestehende Pflichten des Bundes; nur für eventuell vor der Eigentumsübertragung angefallene Schadenersatzansprüche haften der Bund und die BIG als „Solidarschuldner“ gemeinsam.
Martin Hübner, damals verantwortlicher Jurist in der BIG: „Wir erkannten, dass es nicht den geringsten Spielraum für Interpretationen gab!“ Sensibilisiert durch Lassing und die Situation in Innsbruck, hörte man gleichsam die Zeitbombe ticken.
Erste Aufgabe: Es muss so schnell wie möglich jemand gefunden werden, der in der Lage ist, den Fragenkatalog für die dringend zu erstellenden Erstgutachten betreffend den Zustand der Stollenanlagen zu formulieren, und der dann auch noch die darauf basierenden „Über-Gutachten“ zur Bewertung des daraus entspringenden Gefahrenpotenzials erstellen kann.
Eine große Sitzung mit Berg- und Tiefbau-Fachleuten aus ganz Österreich wird anberaumt, allmählich beginnt sich eine mögliche Vorgangsweise abzuzeichnen und es wird vor allem der Mann gefunden, der die Probleme kompetent zu formulieren weiß: Der Geologe Leopold Weber von der Montanbehörde wird nach ersten Gesprächen zum Generalkonsulenten bestellt und im Mai 2001 beauftragt, die Stollen zu befahren und geologisch-geotechnische Gutachten zum Grad der Gefährdung vorzulegen. Weber, ein international anerkannter Bergbaufachmann, der Letzte, der am 17. Juli 1998 die Grube von Lassing vor der Katastrophe noch lebend verlassen konnte, kommt durch Vermittlung von Gerhard Peintinger im Wirtschaftsministerium zur BIG. Der gebürtige Wiener, Jahrgang 1948, hat 1974 mit einer Arbeit über Das Alter der Sideritvererzung im Westteil der Gollrader Bucht promoviert, ist von 1973 bis 1979 Assistent an der Universität Wien und wird danach Geologe bei der Obersten Bergbehörde im Ministerium für Handel, Gewerbe und Industrie. 1986 übernimmt er hier die Leitung der Abteilung Geowissenschaften und Geotechnik (heute Abteilung Rohstoffe). Mit einem Gutachten für die Finanzprokuratur über den Zustand der Innsbrucker Stollen sowie mit einer zweiten Expertise für die Bundesgebäudeverwaltung Salzburg betreffend den oben erwähnten Grill-Stollen in Hallein hat er sich als kenntnisreicher Spezialist für Stollenfragen einen Namen gemacht; mit Elan stürzt er sich auf die neue Aufgabe – auch für ihn eine absolute Herausforderung. Um die Situation von damals zu vergegenwärtigen, bringt Leopold Weber heute einen drastischen Vergleich: Man habe sich in Frühjahr und Sommer 2001 im Stollen-Team der BIG wie nach einem Flugzeugabsturz gefühlt. Überall sieht man sich mit zahlreichen Verletzten konfrontiert, weiß aber nicht um den Grad der Verletzung, sprich das Ausmaß des Sicherheitsrisikos. Denn Stollen ist nicht gleich Stollen: Jedes Stollensystem, so erklärt uns der erfahrene Bergmann, hat seine eigene Dynamik, seine ganz spezielle Charakteristik. Vor allem ist es der Zweck, der das Erscheinungsbild des Stollens geprägt hat: Er bestimmt die Höhe eines Vortriebs, die Art des Ausbaus mit Holz oder Beton. Als Tunnel gelten übrigens Röhren mit einem Querschnitt größer als 20 Quadratmeter, alles, was Querschnitte kleiner als 20 Quadratmeter aufweist, wird zu Recht als „Stollen“ bezeichnet. Und Leopold Weber findet wohl auch das richtige Wort, wenn es um die Art des Zugangs zu einem dieser lost places geht: Er spricht von „respektvoller“ Sicherung der Stollenanlagen.
„Lost place“ in der Unterwelt von Klagenfurt: der Miklinstollen.
In einem ersten Schritt erarbeitet er daher zunächst ein standardisiertes „Pflichtenheft“ für das anstehende Evaluierungsverfahren, das im Juni 2001 vorliegt. Darin entwickelt er insgesamt vier Kategorien zur „Prioritätenreihung“ des Gefährdungsgrades:
Priorität 1: „Die Stollenröhre ist ungenügend oder nicht gesichert, das Gebirge ist nicht standfest. Sicherungsarbeiten sind notwendig. (…) Auf Grund der individuellen Befundung ist Gefahr in Verzug nicht auszuschließen.“
Priorität 2: Stollenzustand wie bei Priorität 1, aufgrund der „individuellen Befundung des Stollensystems ist Gefahr in Verzug jedoch nicht gegeben“.
Priorität 3: „Das Gebirge ist ausreichend standfest oder durch Ausbau dauerhaft gesichert. Sicherungsarbeiten sind nur in geringem Umfang oder gar nicht notwendig. Regelmäßige (z. B. jährliche) Kontrollbefahrungen sind jedoch notwendig.“
Priorität 4: „Nicht überbaute Stollenobjekte, keine Nutzung der Geländeoberfläche, standfestes Gebirge. Mit Ausnahme der (allfälligen) Anbringung von Absperrgittern oder Gittertüren oder einer anderen geeigneten Mundlochsicherung sind keine weiteren Sicherungsarbeiten notwendig. Ausschluss von Tagbrüchen, keine erkennbaren Gefahren, keine weiteren Kontrollbefahrungen notwendig.“
„Sicherungsbedürftig“ sind, so Webers klares Resümee, „jene Stollen- oder Streckenabschnitte von Stollenobjekten“, die „mit Priorität 1 oder Priorität 2 behaftet sind“.
Aufgrund der Vielzahl der Stollenanlagen kommt man