Der falsche Schah. Leonhard F. Seidl

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Der falsche Schah - Leonhard F. Seidl

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drückten sich aus seinem Bauch, über seinen Hals und die Nase bis in die Augen. Bis, ja, bis der Mutter auf einmal die Haare ausfielen, sie ebenso Haare ließ, mit jedem Schnitt um seinen Kopf herum ein wenig mehr, und sie irgendwann nur noch mit einer Glatze vor dem Spiegel stand. Das Erstaunen drückte die Tränen dorthin zurück, wo sie hergekommen waren, und sein Bauch entkrampfte sich wieder. Und während seine Haare weiter fielen, wuchsen ihr Haare auf dem Kinn, um die Lippen herum, auf den Zähnen, den Backen, bis sie irgendwann wie ein alter Barbier aussah. Der Mutter schien es nicht aufzufallen, sie schnippelte munter weiter an Bartholomäus’ Haaren herum. Und diese Veränderung der Realität, seiner Realität, schenkte seinem Geist eine derartige Freiheit, dass der kleine, über die Maßen gescheite Bub auf einmal darüber nachdachte, ob die Mutter sich die Haare auch selber schnitt. Nicht zuletzt, weil er mitbekommen hatte, dass der Geldsäckel der Familie dieser Tage nicht gerade prall gefüllt war. Und dann dachte er darüber nach, ob sie dazu all jenen, und nur jenen, die Haare schnitt, die sich nicht selbst die Haare kürzten, wie ihm. Und da merkte er, dass sich ein Widerspruch auftat, wobei er es natürlich nicht Widerspruch nannte, sondern wieder einmal viel mehr fühlte, dass da irgendwas nicht stimmig war – wie damals, als er in den Soldaten-Stahlhelm des Vaters gepieselt hatte. Weil, wenn sie sich die Haare selbst schnitt, dann gehörte sie doch zu denen, denen sie die Haare mit der Schere bearbeiten musste … Falls ich mich jetzt nicht verhauen habe, wisst ihr vielleicht, was ich meine.

      „So!“, sagte die Mutter. Womit der Bartholomäus auch den Knoten in seinem Kopf über das Friseusen-Paradoxon stehen ließ. Sie kämmte seine nahezu nicht mehr vorhandenen Haare, schüttelte das Handtuch aus, ja, tatsächlich, sie schüttelte es aus und verteilte die Haare dadurch kreuz und quer im Bad, um den Bartholomäus herum. Ihn steckte sie mit dem Kopf unter den Wasserhahn, noch bevor sie die Temperatur geprüft hatte, weshalb ihm wegen des eisernen Griffes der Mutter nichts anderes übrigblieb, als die Zähne zusammenzubeißen, weil sich das Wasser erst eiskalt und dann brühend heiß über seinen kahlen Schädel ergoss. Die Aula-Seife aus Rothenburg schmirgelte, wieder heiß, dann kalt, dann auch noch brennender Schaum in seinen Augen. Nur kurz rubbelte die Mutter den immer noch wehen Kinderkopf, dann überließ sie ihn sich selbst und seinem Schmerz. Denn die Haare mussten zusammengekehrt, das Waschbecken gereinigt und zuletzt noch der Spiegel abgewischt werden. Der Besen schlug gegen das Schäufelchen, die Haare türmten sich darauf und die Mutter trug sie nach draußen zur Tonne im Hof.

      Da erst sah Bartholomäus, was sie ihm angetan hatte. Er erkannte sich nicht wieder! Er war ein anderer Mensch geworden! Jetzt schossen die Tränen aus seinen Augen. Flossen über sein Gesicht. Das bin ja gar nicht mehr ich!

      Vor dem Fenster war der Himmel gerade noch wolkenverhangen gewesen. Doch jetzt schob sich ein Sonnenstrahl durch, fiel auf den sauber geputzten Badezimmerspiegel und von dort aus in Bartholomäus’ Gesicht. Wäre er nicht geblendet gewesen, hätte er sich noch weiter in sein Elend versenken können. Aber er war eben geblendet, was ihm wiederum ermöglichte, Abstand von seinem Schrecken und damit dem Schmerz der Entfremdung zu gewinnen. Und Raum für all die Bilder aus seiner Realität, die sich nun zu einem Ganzen fügten: seine glatzköpfige, bärtige Mutter und er, der nicht mehr er war.

      Was für ein Kraft entstand aus dieser Kombination, aus dieser Erkenntnis: eine Mutter, deren zwanghafte Ordnung durch einen Bart und eine Schere zunichte gemacht worden war und damit auch ihre Macht über ihn. Die ihre Herrschaft nicht nur durch Schere und Kamm ausgeübt hatte, sondern durch den alltäglichen Zwang, penible, preußische Ordnung zu halten, obwohl sie doch aus Oberbayern stammten und jetzt in Franken lebten. Ja, es steckte eine enorme Kraft in dieser Erkenntnis, eine Art Freiheit, die durch die Veränderung des Äußeren, ja, des Menschen Bartholomäus König entstanden war.

      Ab jenem Tag trug der Barholomäus diese Kraft in sich und ich traue mich zu behaupten, dass er an diesem Tag zum König wurde, der im Laufe seines Lebens danach strebte, dieses Sein zu perfektionieren.

      Der gleichaltrige Schah-Sohn, zu dem der König zu Fuß mindestens 800 Stunden und wahrscheinlich noch viel länger unterwegs gewesen wäre, bereitete sich indes auf die Feierlichkeiten zur Ausrufung seines Vaters zum Schah von Persien vor. Auch er saß vor einem Spiegel, seine Augenbrauen wurden mit einem Faden gezupft, was ihm ebenfalls die Tränen in die Augen trieb, aber er wusste: Würde auch nur eine davon aus seinen Augen rollen, durfte er sich der scharfen Rüge seiner Kinderpflegerin gewiss sein.

      Während sich der König nach seinem Initiationsritus noch in seiner Erleuchtung sonnte, ging die Tür zum Bad auf. „Mutti, i hob die Stell! Direktor werd i!“, rief König Senior in urwüchsigem Altbairisch, das er vor seinen Mitmenschen zukünftig, als der Herr Direktor, tunlichst zu verbergen suchte. Genau wie König Junior seine Fähigkeit zur Mimikry.

      „Der junge Herr wird uns noch vor manches Rätsel stellen“, fällt mir da spontan ein. Also genau das, was Generalfeldmarschall Moltke auch über Kaiser Wilhelm II. gesagt hat.

       Im Folterkeller

      Die schwere Holztür öffnet sich und der König glaubt erst gar nicht, was er sieht. Weil, es schaut so gemütlich aus. Ein gefliester Boden, umgeben von einer Steinwand, gar nicht kühl, kunstvoll. Und pfeilgrad: Licht! Er versucht, sich zu freuen und dann aber auch gleich wieder gleichmütig zu bleiben, weil: Licht war ja auch auf dem Rathausturm. Und wie sagte die Mutter so oft so bös: „Wer hoch steigt, fällt tief.“ Schaun wir mal.

      Der Kleine geht voran, hält ihm die Tür auf und der König reißt sich zusammen. Nicht bedanken, weil er ja der Schah von Persien ist und so einer bedankt sich nicht.

      Dann geht’s durch die nächste Tür nach draußen. Ein kühler Wind empfängt ihn auf der Terrasse des Burghotels, neben der Stadtmauer. Der Burgturm trotzig wie der König vor ihm, mit einem Brunnen, der früher die Durstigen mit Wasser versorgt hat oder auch nicht, weil er vielleicht noch gar nicht da war. Die Stadtmauer rechts, wieder Efeu. Links sein Taubertal, das kennst du ja schon und wirst du noch besser kennenlernen. In den Blumenrabatten Friedhofsflora: blutrote Gerbera. Der König macht den Mund auf und hört, wie trocken er ist. Hofft, dass nur er es gehört hat. Sieht das Fernrohr, das schlaff nach unten hängt, gen Tal. War er weitsichtig genug?

      Zwei Schritte die Treppen runter. Und es geht schon wieder durch die nächste Tür; wird noch kühler, immer weiter runter. Und vor allem wird es duster, enger, steil geht es die Stiege bergab. Vor und hinter ihm je ein iranischer Agent. Dicke, feuchte Mauern, durch die kein Schrei nach außen dringt. Kerzenflammen bringen das Treppenhaus zum Zittern. Und dann weiß er, warum sie ihn hierher gebracht haben, hat es vorhin schon gewusst.

      Was ihm als erstes ins Auge sticht in dem Gewölbe, ist das Rad, von einem alten Fuhrwerk, nicht größer als das Rad am Wagen des Scharfrichters. Unscheinbar steht es in der Ecke, unschuldig ausgestellt. Nur unterscheidet es sich von einem gewöhnlichen Rad, das vielleicht auch Blut an seinen Beschlägen haben könnte, von Viechern, die überfahren worden sind, von Igeln, Schnecken, Gewürm; es unterscheidet sich durch die messerscharfe, spitze Schneide, die an ihm angebracht ist, ausschaut wie fesches Beiwerk und dem Folterwerkzeug seinen nüchternen Namen nicht gegeben hat.

      Jetzt könnte ich einen schlechten Wortwitz machen und schreiben, der König fühlt sich wie gerädert. Aber nein, er ist grantig und sagt: „Meine Herren, verraten Sie mir, warum Sie mich, den Schah von Persien, an diesen unwirtlichen Ort bringen?“

      Der Kleine, noch ganz bubenhafter Lehrling, schaut den Großen an, schluckt, dass sein Kehlkopf wie eine Wasseramsel in der Schandtauber von Stein zu Stein hüpft. Jetzt nimmt der Große seine Sonnenbrille ab, was er schon längst hätte tun sollen. Der König schluckt, schluckt und schluckt, obwohl es nix zum Schlucken gibt, und versucht, sich das Schlucken nicht anmerken zu lassen. Aber: schwierig. Weil, das eine Auge ist blind, kein Glasauge, eher eine Weintraube, angeschrumpelt. Der Agent macht den Mund auf. Ein Goldzahn blitzt. Wirklich!

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