Das Mädchen mit den Schlittschuhen. Michael W. Caden
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Читать онлайн книгу Das Mädchen mit den Schlittschuhen - Michael W. Caden страница 10
In schnellen Schritten glitt Albert zurück zum Bachlauf, dann über den Teich. Am Haus war alles ruhig. Mutter schien noch nicht da zu sein. Albert stieß das Fenster zu seinem Zimmer auf, das er vor seinem Ausflug angelehnt hatte. Nur nicht durch die Vordertür, dachte er. Man könnte ihn sehen. Auf Spitzzehen tapste er durchs Zimmer. Mit ein paar Handbewegungen entriegelte Albert das geheime Fach, wischte mit dem Jackenärmel schnell über die Schlittschuhe und über die kleine Wasserpfütze vor dem Schrank. Dann legte er die Schuhe in das Fach, schob den Riegel vom linken Fach in die Öse und drehte sich herum. Das war an jenem Tag im Jahr 1944, als der Frost das Land fest in seinen Würgegriff genommen hatte.
Und jetzt! Albert konnte es nicht begreifen. Er starrte in eine leere, verstaubte Schublade.
»Sie sind weg, Heinrich. Sie sind nicht mehr in diesem Fach!«
Heinrich und der alte Wójcik hatten die ganze Weile beobachtet, wie Albert sich an dem Schrank zu schaffen machte. Sie sahen seine Enttäuschung. Sie stand ihm in großen Buchstaben ins Gesicht geschrieben. Wie sehr hatte er sich gewünscht, die Schuhe gleich in seinen Händen zu halten. Und jetzt blickte er in dieses verstaubte und leere Fach.
Fragend schaute Albert den alten Mann an, der sich schulterzuckend Heinrich zuwandte.
»Herr Wójcik sagt, es tue ihm leid, dass da keine Schlittschuhe drin waren.«
Ihm tut’s leid? Wie konnte dieser Pole, der hier in seinem Elternhaus wohnte, ermessen, was ihm diese Schuhe bedeuteten? Nicht ansatzweise! Und jetzt sagt er, es tue ihm leid.
Albert war zutiefst misstrauisch geworden. Vielleicht wusste dieser alte Mann mehr als er sagte! Mutter hatte ihm erzählt, wie sie von den Polen auf ihrer Flucht um ihre letzten Habseligkeiten gebracht worden waren. Alles hatten sie ihr genommen: ihre ganzen Ersparnisse, ihren Ehering, die Uhr, die sie von Vater zum zehnten Hochzeitstag geschenkt bekommen hatte. Alles. Was ihr blieb, das waren nur noch die Kleider, die sie am Leibe trug und ihre Kinder, die sie vor der russischen Kriegsfurie in Sicherheit bringen musste. Und da wollte ihm dieser alte, freundlich gestikulierende Pole wirklich Glauben machen, er wüsste nichts von dem Fach im Schrank und den Schlittschuhen, die sich darin befunden hatten. Nie und nimmer!
»Herr Wójcik, fragt, ob wir noch zum Kaffee bleiben wollen, Albert.«
Zum Kaffee? Wie konnte er sich jetzt mit diesem Menschen an einen gemachten Tisch setzen? Undenkbar.
»Sag ihm, dass wir wieder ins Hotel müssen, Heinrich. Wir haben leider keine Zeit!«, knotterte Albert. Er reichte Wójcik die Hand, bedankte sich für die Gastfreundschaft und steuerte in schnellen Schritten die Treppe an. Unterwegs rannte er im Flur an einem kleinen, etwa zehnjährigen Kind vorbei. Er nahm kaum Notiz von ihm. Draußen am Auto wartete er ungeduldig auf Heinrich.
»Warum bist du nicht noch eine Weile geblieben?«, wollte sein Reisebegleiter wissen, als dieser einige Minuten später das Fahrzeug erreichte und hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte.
»Weil ich glaube, dass er lügt. Deshalb!!«, fauchte Albert.
»Das glaube ich nicht.«
»Oh doch, Heinrich. Ich kenne diese Sorte von Polen nur zu gut. Sie lügen, weil sie falsch sind, weil es ihnen im Blut liegt.«
Die beiden fuhren zurück zum Hotel. Die Abenddämmerung war angebrochen. Sie gingen ins Restaurant und bestellten sich noch einen Kaffee. Ein richtiges Gespräch wollte nicht mehr aufkommen. An diesem Abend ging Albert Steinky früh zu Bett. Seine Gedanken schweiften umher. Es dauerte lange, bis er endlich in den Schlaf kam.
Der Herrgottschnitzer
Am nächsten Tag war Albert schon früh aus den Federn gekrochen. Als er das Restaurant des Hotels erreichte, hatte Heinrich schon am Frühstückstisch Platz genommen und genoss den heißen Kaffee und den Blick aus dem Fenster.
»Wie war die Nacht, Albert?«
»Geht so. Hat ein bisschen gedauert, bis ich in den Schlaf kam. Und bei dir?«
Auch Heinrich hatte offenbar schon bessere Nächte erlebt.
»Wie ein Murmeltier hätte ich geschlafen, hätte es da nicht die Bekanntschaft mit dieser Spanplatte unter der Matratze gegeben. Jedes Mal, wenn ich mich umgedreht habe, quietschte das Bettgestell. Fürchterlich! Was steht heute an?«
Albert hatte sich einen dieser köstlichen polnischen Pfannkuchen auf den Teller gelegt, während Heinrich weiter an seinem Kaffee schlürfte und sich gerade an dem Frühstücksei zu schaffen machte. Beide verloren kein Wort über den gestrigen Tag.
»Ich dachte, wir fahren nach Heilsberg und statten der Bischofsburg einen Besuch ab.«
»Ja, warum nicht. Eine gute Idee!«
Albert und Heinrich genossen das üppige Frühstück. Danach packten sie noch ein bisschen Proviant in die Rucksäcke. Schließlich hatten sie sich viel vorgenommen für diesen Tag. Sie wollten Heilsberg erkunden und der altehrwürdigen Bischofsburg einen Besuch abstatten. Gegen 10 Uhr verließen sie das Hotel zu Fuß in Richtung Stadtmitte.
Sie überquerten die Brücke über die Aller und gingen an der Kirche vorbei. Auf der Außenmauer thronten Heiligenfiguren in Übergröße. Sie bildeten einen seltsamen Kontrast zu den Plattenbauten in der unmittelbaren Nähe. Auf einem Balkon hatte jemand einen Schäferhund angebunden, der unentwegt kläffte.
»Ein bisschen Auslauf könnte dem aber auch nicht schaden«, meinte Heinrich und blickte zu Albert.
Doch der hatte gar nicht zugehört. Wie angewurzelt stand er da, starrte auf das Gebäude hinter der Kirche.
»Was ist los, Albert? Du bist ja mit einem Male so blass. Geht es dir nicht gut?«
Albert reagierte immer noch nicht.
Heinrich wartete einen kurzen Moment, dann wagte er einen weiteren Versuch.
»Sag doch, was ist?«
Albert sah Heinrich an. Seine Augen wirkten starr.
»Sag mal Heinrich, war hier mal ein Kloster, ein Altenheim oder so etwas Ähnliches?«
»Ja, mag sein. Warum?«
»Ich glaube, ich kenne dieses Haus. Ich meine, nicht persönlich. Nicht selbst. Ich habe lediglich davon gehört. Aber ich weiß, dass es ein furchtbarer Ort ist.«
Albert schluckte kurz.
»Hatte ich dir schon von Sophie erzählt?«
»Sophie …?
Heinrich schaute Albert ungläubig an.
»Nein, ich glaub nicht!«
Albert wirkte nachdenklich. Seine Gesichtsmuskeln waren angespannt. Unentwegt blickt er auf das Backsteinhaus mit dem großen Tor. Dann begann er mit leisen Worten zu erzählen.
»Sophie war die Tochter des Schmieds Urbschat in Klotainen. Sie war eine rechte Frohnatur und hatte kurzes feuerrotes Haar. Urbschats Wagen hatte sich im Januar 1945 bei der Flucht von Klotainen auf der vereisten Straße quer gestellt, weil er in dem ganzen Chaos des Rückzugs von einem deutschen