Das Mädchen mit den Schlittschuhen. Michael W. Caden

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Das Mädchen mit den Schlittschuhen - Michael W. Caden

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      Stanislaw Wójcik öffnete die Tür zum Dachboden. Sie knarrte laut, was wohl daran lag, dass sich in den letzten Jahren wohl selten jemand hier obenhin verirrt hatte. Albert betrat als Erster den Raum. Sofort fiel sein Blick auf den Schrank. Aus Tausenden von Schränken hätte er ihn wiedererkannt. Diesen Schrank gab es nur einmal auf der Welt. Alle Schrecken und Wirren des Krieges hatte er überstanden, um nunmehr in wenigen Minuten sein Geheimnis preisgeben zu können.

      »So, nun passt mal auf, was hier gleich geschieht!«

      Albert war geradezu entzückt. Er bückte sich und öffnete die untere linke Schublade, zog sie heraus und legte sie zur Seite. Dann griff er – so als habe er es schon tausend Mal zuvor geübt – mit der rechten Hand in den Hohlraum. Als seine Finger wieder zum Vorschein kamen, hielt er einen kleinen runden Holzstopfen in Händen, der als Entriegelung für eine weitere Schublade gedient hatte.

      »Schaut mal her!«, strahlte er.

      Und tatsächlich, was zuvor wie eine Zierblende aussah, ließ sich jetzt bequem nach vorne schieben.

      Albert zuckte. Was war das? Das Fach, es war leer!

      Für einen Augenblick war es gespenstisch still auf dem Dachboden geworden.

      Albert konnte es nicht glauben. Das Fach, von dessen Existenz niemand im Haus etwas wissen konnte, war leer. Fassungslos starrte er in die verstaubte Schublade.

      Albert erinnerte sich, dass er schon einmal vor dieser leeren Schublade gestanden hatte. Das war Ende 1944 …

       Der erste Wagen

      »Suchst du etwa die hier?«

      Die Stimme, die Albert hinter sich vernahm, kannte er nur zu gut.

      Ist das nicht …?

      Noch immer sprachlos, drehte er sich um.

      Karlchen? Natürlich! Es war Karlchen, sein kleiner Bruder. Geschniegelt und gestriegelt stand er im Eingang zum Schlafzimmer, etepetete, wie aus einem Ei gepellt. Pechschwarze Haare, akkurater Seitenscheitel, Knickerbocker mit Hosenträger, darunter sein Lieblingshemd – ein weißes, langarmiges. Die Schuhe blitzblank geputzt, dass man sich fast darin hätte spiegeln können.

      Albert hatte ihn gar nicht bemerkt. Doch immer dann, wenn man überhaupt nicht mit ihm rechnete, war er plötzlich da.

      »Woher hast du gewusst, wo die Schlittschuhe sind?«

      Die Schlittschuhe an den Schnüren gepackt, hielt er sie zwei Trophäen gleich in die Höhe und stand dabei wie angewurzelt in der Zimmertür. Ein breites schelmisches Grinsen legte sich auf sein Gesicht, so wie er immer grinste, wenn ihm irgendetwas durch den Kopf schoss, was nichts taugte. Karlchen war zehn Jahre alt, aber ein ausgekochtes Schlitzohr, wie es in Klotainen kein zweites gab.

      »Willumeit hat es mir zugeflüstert!«, antwortete Karl.

      »Willumeit? Nie und nimmer!«, fauchte Albert ihn an.

      Adolf Willumeit galt im Dorf als Sonderling, von der Statur her war er ein stangenlanges Gerebbel mit ausgesprochen großen Ohren, die er zumeist unter einer Mütze zu verstecken versuchte. Sommer wie Winter lief er mit der gleichen, zigfach gestopften Jacke durchs Dorf, die er vor dem Anziehen ausschlackerte und die aussah, als hätten die Mäuse daran geknabbert. Willumeit galt als wortkarg, er redete nicht viel, was aber nichts damit zu tun hatte, dass er nichts zu sagen gehabt hätte. Im Gegenteil. Wenn er etwas mitzuteilen hatte, dann fanden sich in dem ansonsten ereignisarmen Klotainen auch rasch ein paar Zuhörer. Das lag wohl daran, dass manche Leute im Dorf glaubten, er habe so etwas Ähnliches wie seherische Fähigkeiten. Im Jahr 1933, als ein kleiner Weltkriegsgefreiter, der eigentlich gar kein Deutscher war, Deutschland auf Kosten anderer zur Weltmacht machen wollte, erzählte Willumeit im Dorf von einem großen Krieg, der das Land überziehen würde. »Millionen von Menschen werden ihr Leben lassen«, erzählte er den Leuten im Dorf, den Kleinen wie den Großen. Und dass es am Firmament geschrieben stand, von wo er es nur habe ablesen müssen, was ihm in dem kleinen ermländischen Dörfchen stets größte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ.

      Jemand hatte also für andere unsichtbar am Himmel herum gepinselt, und Adolf Willumeit, der Sonderling aus Klotainen, brauchte es nur noch zu lesen. Die meisten im Dorf hielten ihn für einen Schossel, für jemanden, der einfach nur dumm daher redete. Sie zeigten mit dem Finger an den Kopf, wenn die Rede auf Willumeit und seine Prophezeiungen kam. Auch seiner Frau war das Gerede nicht geheuer. »Schlabber nuscht so kariert«, meinte sie zu ihm. »Du machst mir in Klotainen noch alle ganz meschugge! Ja sie drohte ihm sogar damit, dass sie ihm sein Klunkermus, eine Art Milchsuppe mit eingerührten Mehlklößen, seine Lieblingsspeise, entziehen würde, wenn er nicht damit aufhören würde, von irgendwelchen Himmelserscheinungen zu faseln. Fortan hielt Willumeit zwar immer häufiger seinen Mund, wenn es um die Dinge ging, die es da oben zwischen den zumeist tief liegenden Wolken zu lesen gab, aber dennoch sah man ihn stets mit erhobenem Kopf durchs Dorf stolzieren. Im Laufe der Zeit entwickelte er dabei sogar eine ganz eigene Technik, indem er mit einem Auge zum Boden blickte, mit dem anderen zum Himmel hoch linste – immer auf der Suche nach irgendwelchen überirdischen Neuigkeiten.

      Albert fand ihn auch immer etwas sonderlich. Karlchen aber, der mochte ihn.

      »Dem Karlchen, mit dem ist was gefällig«, pflegte Willumeit immer zu sagen. Das Karlchen, das sei kein Glumskopp, meinte er, das sei so schlau, das könne sogar Katzendreck im Dunkeln riechen. Dem kleinen Karl imponierte das mächtig. Einen ellenlangen Vortrag über das ostpreußische Rindvieh an sich und insbesondere über die klotainische Kuh hatte er Willumeit während eines Spaziergangs gehalten. Und der hatte andächtig zugehört. Karlchen klärte ihn darüber auf, warum die Viecher in Klotainen mehr Milch geben als ihre Artgenossen in Wernegitten und wieso die Kuh von Frau Glupsch die größten Fladen fallen lässt. Karlchen wusste alles übers Viehzeug, zumindest tat er so. Selbst der Kuhschwanzastronom aus Heilsberg, womit er den örtlichen Tierarzt meinte, und da war er sich sicher, hätte von ihm noch etwas lernen können. Und was Willumeit an Karlchen besonders gefiel, war die Tatsche, dass er auch über Klunkermus sprach, welche Sorten von Klunkermus es gibt, darüber, wie man die Mehlklöße zubereitet, damit sie nicht auseinanderfallen und wie lange man sie in der Milchsuppe garen muss. Willumeit war stets fasziniert von so viel Gourmetwissen.

      Karlchen war stolz darauf, Katzendreck im Dunkeln riechen zu können. Er verstand es als Kompliment und fühlte sich geehrt, geradeso als habe ihm der alte Willumeit mit diesem Satz einen Orden verpasst. Mit Stolz geschwellter Brust ging er fortan durchs Dorf, erzählte jedem, der seinen Weg kreuzte, von Kühen und Katzen, und wenn der Tag zu Ende ging und Karlchen in den Schlaf fiel, dann fing er am nächsten Morgen wieder damit an. Er hatte eben einen ausgeprägten Missionsgeist. An klaren Tagen erwischte er sich sogar manchmal dabei, wie er zum Himmel hochblickte. Doch außer Cumulus- oder Cirruswolken konnte er dort nichts ausmachen.

      Doch der alte Willumeit – er sollte Recht behalten. Man schrieb das Jahr 1944. Der große Krieg war bereits im fünften Jahr. Tausende und Abertausende waren auf den Schlachtfeldern gestorben. Vielleicht konnte Willumeit die Dinge tatsächlich voraussehen, vielleicht war er aber auch nur etwas verwirrter als andere. Aber woher zum Teufel sollte dieser seltsame Mensch wissen, wo sich Mutters Geheimfach befand und dass die Schlittschuhe darin lagen? An der Sache, das roch Albert sofort, an der war irgendetwas faul.

      Es gab Tage, da hätte er Karlchen zum Mond schießen können und vielleicht auch noch ein Stückchen weiter. Und heute, da war so ein Tag. Ständig nervte er, und nie blieb er bei der Wahrheit. Und stur konnte er sein. Ein Esel hätte sich vor Neid in den Schwanz gebissen. Was dieser kleine

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