Das Mädchen mit den Schlittschuhen. Michael W. Caden
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Читать онлайн книгу Das Mädchen mit den Schlittschuhen - Michael W. Caden страница 5
»Ei, war das ein Spaß im Winter. Du glaubst ja gar nicht, was dann hier los war.«
Ja, die Winter, sie konnten eisig sein in Ostpreußen. Das wusste auch Heinrich. Manchmal hielten Schnee und Frost das Land sogar noch im Mai in ihren eisigen Krallen. Heinrich lebte in diesem Land, seit er denken konnte. In der Nähe von Guttstadt war er geboren, auf einem Gutshof als der jüngste Spross von fünf Geschwistern. Seit Generationen war der Hof in Familienbesitz. Schon früh musste er hart bei der Landarbeit anpacken. Doch das Land, es hat ihn nie losgelassen. Auch nicht, als er Ende Januar 1945 als 10-Jähriger mit seiner Familie auf der Flucht von der russischen Front überrollt wurde und er wieder in seinen Heimatort zurückkehrte. Gerne sprach er nicht über diese Zeit. »Zu vieles erlebt«, meinte er stets, wenn er darauf angesprochen wurde, und winkte ab. Darüber reden wollte er nie. Auch jetzt nicht. Heinrich hatte gelernt, was vergessen heißt.
»Das war vielleicht ein Spaß. Da drüben am Hang Richtung Siegfriedswalde wurde Schlitten gefahren, manchmal gleich über den See«, sprudelte es jetzt aus Albert heraus. »Was für eine Rodelpartie! Ein Bauer stellte ein Pferd und einen Kutscher zur Verfügung. 10 bis 15 Schlitten wurden hintereinander befestigt, und das Pferd zog die Schlitten den Berg hinauf. Wenn die Eisdecke es zuließ, liefen wir Kinder auch Schlittschuh. Wir hatten uns kleine Kufen bei Urbschat, unserem Dorfschmied, anfertigen lassen. Mit kräftigen Schlägen schlug er die Eisen unter die Holzpantoffeln – und ab ging es danach aufs Eis …«
Eine Weile hatte Albert monologisierend in die Ferne geblickt, als er sich wieder seinem Begleiter zuwandte.
»Weißt du, Heinrich, nicht jeder im Dorf konnte sich ein Paar Schlittschuhe leisten, dafür gab es aber Schlorren – manche hatten unter jedem Fuß ein Brett, das mit einem Riemen am Fuß festgeschnallt war. Auf dem Brett waren runde Drähte aufgenagelt – eine ganz primitive Anfertigung, die man sich praktisch selbst machen konnte. Dann gehörte zu den Schlorren noch ein Stab, so lang wie ein Besenstiel, mit einem unten eingeschlagenen Nagel. So spielten wir oft sogar Eishockey.«
Auch Albert hatte solche Schlorren besessen. Bis zu dem Tag, als er von seinem Vater Willi diese wundervollen Schlittschuhe erhielt. Jahrelang hatte dieser sie gehütet wie einen Schatz.
»Weißt du, Heinrich, zu meinem 12. Geburtstag schenkte mein Vater mir ein paar wundervolle Schlittschuhe. Mann, wie die blinkten und funkelten. Er muss sie ständig poliert haben. Mein Vater hatte sie von seiner Mutter ebenfalls zum 12. Geburtstag erhalten. Damals in Elbing.«
»Eine schöne Geste und ein schönes Geschenk«, fand Heinrich.
»Er hat sie offenbar so gehütet, weil sie ihn so sehr an seine Mutter erinnerten. Weißt du Heinrich, sie starb ziemlich jung an einer Lungenembolie. Er hat ihren Tod nie richtig überwinden können.«
»Was ist aus den Schlittschuhen geworden?« Heinrich interessierte die Geschichte.
»Weiß ich nicht. Bei der Flucht blieben sie zurück im Haus. Die Schlittschuhe sind sicherlich so wie ganz Ostpreußen mit dem Krieg untergegangen.«
Heinrich strich sich mit der Hand durch die Haare.
»Wollen wir ins Dorf fahren?«
Albert fuhr es in den Magen. Ins Dorf? Nach Klotainen? Er spürte wie das Herz schneller schlug, so wie bei der Landung in Danzig. Klotainen – wie sehr war dieser Name mit Sehnsucht und mit Schmerz verbunden.
»Nach Klotainen!?«
»Ja! In fünf Minuten sind wir da. Länger brauchen wir kaum«, war sich Heinrich sicher.
Was waren schon fünf Minuten im Vergleich zu 60 Jahren. Ein Wimpernschlag, ein winziges Nichts – und für Albert in diesem Augenblick doch eine ganze Ewigkeit.
Albert zog die Füße aus dem Wasser, rieb sie mit den Händen kurz trocken, streifte sich die Socken und Schuhe über. Dann stand er auf.
»Ja, lass uns fahren, Heinrich. Fahren wir… Fahren wir nach Hause!«
Heinrich steuerte den Wagen zunächst Richtung Heilsberg. Die Straße führte durch einen dicht bewachsenen Erlenwald. Die Teerdecke war bestückt mit unzähligen Schlaglöchern, die aneinander gereiht Albert stark an einen Schweizer Käse erinnerten. Nachdem sie die Chaussee erreicht hatten, setzte Heinrich den Blinker nach rechts und fuhr Richtung Seeburg.
Albert fühlte, wie sein Herz raste. Unentwegt starrte er auf die Landschaft, die in einem Rausch von Farben an ihm vorüberflog.
War das die Straße nach Klotainen? War das der vereiste Weg, den er vor 60 Jahren bei bitterer Kälte mit der Mutter und seinen Geschwistern auf der Flucht vor der sowjetischen Kriegsfurie genommen hatte? Albert war sich nicht sicher. Alles hatte sich verändert. Früher waren die Straßen hier nicht asphaltiert. Sie waren zu einer Hälfte gepflastert und zur anderen Hälfte mit Sand bedeckt. Und die Bäume waren gewachsen, sie überzogen die Straße mit ihren wuchtigen Kronen wie ein grünes Dach.
Völlig unverhofft schossen Albert Fetzen von Bildern durch den Kopf. Ganz plötzlich waren sie da. Deutlich sichtbar. Schmerzend. Er sah, wie sich dieser endlose Flüchtlingstreck den Weg nach Heilsberg hinunter schlängelte – alte Männer, Frauen und Kinder, dick vermummt auf Pferdewagen oder mit Handkarren, vom Kampf gezeichnete Soldaten in Militärfahrzeugen oder zu Fuß. Der Horizont war rot, blutrot, und die Straßen hatte der Frost mit einem zentimeterdicken Eis überzogen. Die Fuhrwerke kamen ins Rutschen, Granaten flogen über die Köpfe der Flüchtlinge. Man hörte ein ständiges Pfeifen und in der Ferne ein dumpfes Dröhnen der Geschütze.
Albert wandte sich seinem Begleiter zu. Er versuchte, diese alten Gespenster aus den Tagen von Flucht und Vertreibung aus seinem Kopf zu verbannen und blickte zu den wuchtigen Baumkronen empor.
»Heinrich, schau diese Bäume! Wie gewaltig sie doch in den sechs Jahrzehnten gewachsen sind. Da, die Brücke über die Simser – die war damals anders. Sie ist neu gemacht worden! Und dort, der Weg nach Blumenau: Er ist nicht geteert. Geradeso wie damals. Herrlich, diese sandigen ostpreußischen Wege«, schwärmte Albert, während sein Herz laut pochte. Immer wieder schossen Erinnerungsfetzen durch seinen Kopf. Wie er als Kind mit seinem Bruder Karl zum kleinen Bahnhof nach Blumenau ging. Hier in der Nähe gab es die besten Blaubeervorkommen. In der Nähe von Blumenau musste er beim Torfstechen helfen.
»Schau, gleich sind wir da.« Heinrich deutete auf das Ortseingangsschild.
Klutajny stand dort. Klutajny! Nicht Klotainen. Eigentlich hatte Albert es auch nicht anders erwartet. Und doch wirkte es befremdlich auf ihn.
Und auf der linken Seite? Statt auf das Rittergut blickte er auf einen ehemaligen Kolchose-Betrieb. Landwirtschaftliche Maschinen standen verlassen und wie stumme Zeugen einer vergangenen Epoche verrostet umher. Hier arbeitete niemand mehr. Ein trauriger Anblick. Und an der Straße, wo früher vereinzelt Wohnhäuser und Miggegrets Gaststätte standen, thronten nunmehr Plattenbauten, farblos und grau in grau.
»Dort wohnen die Leute, die früher in der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft tätig waren. Viele von ihnen sind heute arbeitslos. Auf der anderen Straßenseite hat sich manch einer seinen Schrebergarten angelegt«, erläuterte Heinrich, der die Fahrt verlangsamte. Er schien bemerkt zu haben, was Albert bewegte.
»Das Rittergut, das haben die Kommunisten dem Erdboden gleichgemacht. Ich glaube, es ist nur noch ein alter Pferdestall übrig geblieben. Aber Euer Reihenhaus von damals, das steht noch.«
»Unser Haus, es steht noch?«