Raue Februarwinde über den Elbmarschen. Manfred Eisner
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»Herr Doktor Kramer, was halten Sie davon, wenn Sie meinen Vorgänger in Kiel anrufen und vorsichtig sondieren, ob man dort diesen Fall bereits kennt, und gegebenenfalls, wie er ihn beurteilt.«
»Das tue ich sehr gern, Frau Doktor. Ich hatte mit Herrn Pepperkorn immer eine äußerst vertrauensvolle und angenehme Zusammenarbeit.«
*
Hannelore Maas, die in einem Nebenjob das Amt der Pressereferentin der Wind-Powermasters Genossenschaft ausübt, legt tief betroffen den Hörer auf. Geschäftsführer Alfred Rademacher hat ihr soeben von dem Leichenfund auf dem Areal ihres Windparkprojekts berichtet und sie gebeten, sich vorsorglich einige Gedanken zwecks einer eventuell zu publizierenden Erklärung für die Medien zu machen. Die äußerst attraktive, langbeinige und wohlgeformte Fünfundzwanzigjährige erregt mit ihrer langen brünetten Haartracht und den strahlenden grünen Augen die besondere Aufmerksamkeit der Männerwelt, wo auch immer sie auftaucht. Bei besonderen Gelegenheiten wie dem Gildefest im Kolosseum oder dem Feuerwehrball in der Elbdeichhalle ist sie ein gern gesehener Gast und von zahlreichen Tanzfreaks ständig umschwärmt. Eines Tages befand sich unter diesen ein gestandenes Mannsbild namens Harald Maas, seines Zeichens Brandmeister bei der hiesigen Freiwilligen Feuerwehr. Als Lkw-Fahrer hatte er sich vor drei Jahren – vorerst mit nur einem, später noch mit einem zweiten Lastzug – selbstständig gemacht. Seitdem betreibt er eine kleine Speditionsfirma, die sich ausschließlich mit dem Transport von Gemüse aus den benachbarten Gebieten rund um Glückstadt beschäftigt. Hannelore fühlte sich, gleich nachdem sie einander zum ersten Mal begegnet waren, zu diesem besonders männlichen Typ stark hingezogen und wurde ihm bald willig. So kam es, dass sie schon nach kurzer Zeit ihrer Liaison schwanger wurde. Nach einigem Zögern wurde Harald schließlich seiner Verantwortung gerecht und machte ihr einen Heiratsantrag. Hannelores Eltern bewirtschaften in dritter Generation einen der vielen mittelgroßen Höfe am Elbdeich der Blomeschen Wildnis nahe Glückstadt, auf dessen nährstoffreichem Marschboden heimische Gemüsearten besonders ertragreich wachsen. Seitdem Hannelore den Einzelhandels-Kaufmannslehrgang an der Berufsschule in Itzehoe erfolgreich absolviert hat, betreibt sie auf dem Gelände einen kleinen Hofladen, in dem sie sowohl die saisonalen Erzeugnisse aus eigener Ernte, darüber hinaus ihren Kunden aber auch Freiland-Eier und Poularden von Lissy Masals Eulenhof anbietet. Zudem steht auf dem Hofladen eine »Tankstelle« für Frischmilch und es werden Sahne, Joghurt, Butter und diverse Käsesorten vom Holstenhof der Familie Keller angeboten. Johann und Bärbel Schwarz waren von Hannelores Männerwahl keineswegs begeistert, hätten sie doch einen in der Landwirtschaft gut bewanderten Schwiegersohn bevorzugt, damit dieser später ihren Hof übernahm. Zumindest war das Familienmitglied in spe durch den Transport ihrer Erzeugnisse aus dem Gemüseanbau sozusagen mit ihnen verschwägert, also gaben sie – insbesondere weil sich bereits Nachwuchs anmeldete – schlussendlich der Vermählung ihren Segen, dem eine Bürgschaft für den benötigten Bankkredit zwecks Anschaffung eines zweiten Lastzuges folgte. Als sich Hannelore bereits im siebten Schwangerschaftsmonat befand, erlitt sie bedauerlicherweise eine Fehlgeburt, an der sie, als Folge einer Notoperation, beinahe gestorben wäre. Das war für die Familie ein tiefer Schock, umso mehr, als sich herausstellte, dass Hannelore nie wieder Kinder bekommen würde. Ihr Mann veränderte sich seit dieser tristen Begebenheit und ihre Beziehung kühlte sich – vor allem in geschlechtlicher Hinsicht – merklich ab. Es gab zwar keine handfesten Auseinandersetzungen, jedoch war die Intensität ihrer vormaligen Zuneigung gedämpft. Harald konzentrierte sich zunehmend auf seine Arbeit und fuhr täglich kurz nach Mitternacht zum Großmarkt in Hamburg. Sein angestellter Fahrer, Herbert Pfannenschmidt, hingegen steuerte jeden Tag Kiel an. Und so ist es heute noch. Wenn die beiden nachmittags zurück sind, beschäftigen sie sich mit dem Abholen der Ware aus der benachbarten Umgebung. Beide – sowohl Harald Maas als auch Herbert Pfannenschmidt – kommen fast immer erst am späten Abend von der Tour zurück, parken ihre Kühl-Lastkraftwagen in einer eigens dafür gebauten Remise und verzehren schließlich gemeinsam ihr Abendbrot in der Wohnküche des Hofes. Zu so später Stunde hat sich der Rest der Familie bereits zur Ruhe begeben.
Nur gelegentlich durch einen Kauflustigen unterbrochen, der den Laden betritt, arbeitet Hannelore am Schreibtisch ihres kleinen Büros und versucht einige zusammenhängende Sätze für die von ihr geforderte Verlautbarung zu Papier zu bringen. Dabei schweifen ihre Gedanken von dem tristen Leichenfund ab und gleiten in die Ferne. Schon als sie den Fremden das erste Mal sah, verliebte sie sich in den blonden, ungemein gut aussehenden jungen Mann, von dem sie lediglich weiß, dass er aus Lübeck stammt. Sie bemerkte ihn des Öfteren bei Veranstaltungen und Zusammenkünften sowohl von Befürwortern als auch Gegnern der Windkraftanlagen, an denen sie weisungsgemäß teilnahm. Natürlich blieb ihr nicht verborgen, dass dieser ausgesprochen schöne Mann immer wieder in ihre Richtung schaute und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hannelore war – das muss sie sich auch heute noch ehrlich eingestehen – durch die nachlässige Art und die sexuelle Kälte ihres Ehemannes wahrlich liebeshungrig geworden. Fast jede Nacht, wenn sie allein im Ehebett lag, brach sie in Tränen aus und tröstete sich, indem sie sich selbst befriedigte. Jedes Mal, wenn Harald Stunden später zu ihr ins Bett kroch, war sie bereits in einen tiefen Schlaf versunken. Dann auf einmal weckte plötzlich dieser Adonis die heißesten Gefühlsregungen in ihrem Inneren. Als Werner Reimers bei einer Protestveranstaltung direkt hinter ihr stand, spürte sie seinen aufgeregten Atem an ihrem Nacken. Sie sah sich vorsichtig um und bemerkte, dass die Blicke sämtlicher Anwesenden auf den Sprecher fixiert waren, der vor ihnen vehement einen lautstarken Appell zum Widerstand gegen die verhassten Windkrafträder und die »Verspargelung unserer Natur« aufrief. Eine unwiderstehliche Kraft trieb sie Schritt für Schritt rückwärts, bis sie den direkten und warmen Körperkontakt und bald darauf die drängende Härte seiner Männlichkeit an ihrem Gesäß verspürte. Willenlos ließ sie sich wenig später von dem Unbekannten vom Versammlungsort wegführen, nachdem ihr dieser nur das Wort »Komm!« ins Ohr geflüstert hatte. Verschämt blickte sie aus dem Seitenfenster des fahrenden Autos, mit dem sie gemeinsam zum Gasthof »Zur Lindenschenke« fuhren, in dem er logierte. Unbemerkt betraten sie das Gebäude durch eine Hintertür und er führte sie auf sein Zimmer. Wortlos küssten sie sich, rissen sich gegenseitig die Kleider vom Leibe und fielen von einem leidenschaftlichen Fieber befallen übereinander her. Von da an nahmen sie jede sich bietende Gelegenheit wahr, um sich – wo auch immer – zu treffen. Viel sprachen sie bei ihrem immer wieder heftig aufflammenden Liebesakt nicht miteinander, zu sehr waren sie in diesen versunken. Die wenig ihnen geschenkten Augenblicke nutzten sie ausgiebig für Liebkosungen und intensivsten Geschlechtsverkehr.
»Ist jemand da? Hallo?«
Der Ruf unterbricht Hannelores Träumerei. Ein wenig beschämt bemerkt sie, dass sich ihre rechte Hand in ihrem Schoß befindet. »Einen Augenblick, ich bin gleich bei Ihnen!«, ruft sie zurück, eilt zum Waschbecken und wäscht sich die Hände.
»Was kann ich für dich tun?«, fragt sie wenig später das junge Mädchen, das sich suchend im Laden umschaut.
»Meine Mama hat gesagt, ich soll einen Liter Milch in diese Kanne füllen. Können Sie mir bitte dabei helfen?«
*
Es hat zwar aufgehört zu schneien, doch stattdessen regnet es immer wieder in Strömen. Der Mann in der Tür schüttelt das eiskalte Wasser von seinem Regenschirm ab, bevor er die Polizeidienststelle Oldenmoor betritt. »Guten Tag! Ich komme, um eine Vermisstenanzeige zu machen, Frau Kommissarin.«
»Ich danke Ihnen für die nett gemeinte Beförderung.« Die freundliche weibliche uniformierte Erscheinung mit den rot gefärbten kurzen Haaren unter der Dienstmütze schmunzelt. »Ich bin nämlich leider nur Polizeimeister-Anwärterin. Mein Name ist Helga Timm, zu Ihren Diensten.« Als der Mann lediglich kurz lächelt, fährt sie fort: »Darf ich zunächst Ihren Namen, das Geburtsdatum und die Anschrift erfahren?«