Das Virus in uns. Kurt Langbein
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In jedem Kubikmillimeter Meerwasser finden sich zehn Millionen Viren27, 100 Millionen verschiedene Virentypen werden insgesamt vermutet, 320.000 davon kommen in Säugetieren vor. Und unser Wissen ist trotz der rasanten Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren immer noch marginal: Gerade einmal 5630 Virenarten sind bisher identifiziert und beschrieben.28
Viren sind – mit Ausnahme der sogenannten Riesenviren – winzig, wesentlich kleiner als Bakterien, selbst unter dem Lichtmikroskop nicht auszumachen. Wäre ein Mensch so groß wie ein Fußballstadion, hätte ein Bakterium die Größe eines Fußballs und ein Virus wäre so groß wie eines der schwarzen achteckigen Felder auf dem Ball. Oder ein anderes Bild: 20.000 von ihnen aneinandergereiht, messen gerade einmal einen Millimeter.29
Viren sind allgegenwärtig – im Meer, an Land, tief unter der Erde, zu finden überall dort, wo es Zellen gibt. Denn sie brauchen, um sich fortzupflanzen, andere Mikroorganismen. Im Grunde sind Virenpartikel (Virologen nennen sie »Viria«) nichts anderes als proteinbesetzte Kapseln mit Erbgut darin, manchmal noch mit einer Hülle rundherum. Träger der Erbinformation sind die Nukleinsäuren DNA oder RNA.
Dass sich Viren nicht selbst vermehren können, ist der Grund, warum sie bei den meisten Wissenschaftlern auch nicht als Lebewesen gelten. Als solche müssten sie zudem wachsen, Energie und Eiweiß erzeugen können. Dazu sind Viren nicht in der Lage. Auf der Suche nach dem geeigneten Wirt, den sie für ihre Fortpflanzung brauchen, helfen Rezeptoren an der Oberfläche der Viruskapsel, die zu jenen der Wirtszelle passen. Einmal angedockt, schleust das Virus seine Erbinformation in das Innere der Zelle und veranlasst sie, Viren-Bruchteile zu produzieren, die sich in der Zelle zu Viren-Kopien zusammenfügen. Damit ist der Reproduktionszyklus komplett, und die aus der Wirtszelle austretenden Abertausenden Viren-Kopien kapern ihrerseits weitere Zellen.
Manchmal ist dieser Vorgang allerdings äußerst aggressiv. Die befallene Zelle wird dann veranlasst, so viele Kopien herzustellen, dass sie vor Erschöpfung zerplatzt. Ein Beispiel dafür ist das Ebolavirus, das beim Menschen nicht nur die Zellen der Leber und anderer Organe befällt, sondern auch Lymphknoten und Abwehrzellen des Immunsystems. Ein Großteil seiner Opfer stirbt rasch. Aus Sicht der Viren sind Menschen damit freilich ein Fehlwirt, da sie oft nicht lange genug leben, um die Viren-Kopien weiterzugeben. Die meisten der bisher beobachteten Ebola-Ausbrüche waren deshalb auch schnell wieder zu Ende.
Die überwiegende Mehrzahl der Viren pflegt einen deutlich weniger radikalen Stil. Besonders schlau machen es Rhinoviren, die häufigsten Auslöser von Schnupfen. Sie verbreiten sich in der Nasenschleimhaut von Zelle zu Zelle. Als Immunreaktion schwillt die Nasenschleimhaut an und bildet größere Mengen eines schleimhaltigen Sekrets: Die Nase läuft – und Unmengen frisch geschlüpfter Viren laufen mit, um sich neue Wirte zu suchen, die sie mit Schnupfen anstecken können. Die Viren verwenden das Immunsystem also gleichsam als Helfer bei ihrer Vermehrung.
Lebendige Flüssigkeit
Das erste Virus, das sichtbar gemacht werden konnte, war der Erreger der Mosaikkrankheit auf Tabakpflanzen, die sich in gekräuselten Blättern und mosaikartiger Marmorierung äußert.30 Das war 1940, doch diesem Fund war eine 50 Jahre dauernde Suche vorangegangen. Der deutsche Agrikulturchemiker Adolf Mayer hatte sich bereits seit 1889 bemüht, die Ursache für die welkenden Tabakpflanzen zu finden, konnte im Mikroskop jedoch keinen Erreger ausmachen. Dabei musste es einen solchen geben, denn Mayer hatte den Saft kranker Pflanzen gesunden injiziert, deren Blätter sich ebenfalls zu verfärben begannen. Selbst wenn der Pflanzensaft ganz fein gefiltert wurde, blieb er infektiös. Der russische Biologe Dmitri Iwanowski, der sich der Sache ebenfalls annahm, vermutete, eine lebendige Flüssigkeit müsse Ursache der Infektion sein, und sprach von einem »Virus«, einem Gift. Das wurde allerdings nicht schwächer, wenn man es verdünnte, es musste sich also irgendwie vermehren.
Viel wurde spekuliert, was dahinterstecken könnte, zumal zur selben Zeit auch die Jagd nach bis dahin unbekannten Erregern anderer Krankheiten begonnen hatte.31 Etwa nach jenem der Maul- und Klauenseuche, bis heute eine der gefährlichsten Infektionserkrankungen bei Tieren.
Immer wieder vertieften sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt in das Problem des unsichtbaren Tabakpflanzenschädlings, ohne eine Lösung zu finden. Erst 1935 entdeckte der US-amerikanische Biochemiker und Virologe Wendell M. Stanley winzige Kristallnadeln im Saft einer befallenen Pflanze. Bestätigt werden konnte Stanleys Fund mithilfe des ersten Elektronenmikroskops 1940. Sechs Jahre später bekam er dafür den Nobelpreis für Chemie.
Lange Zeit nach ihrer Entdeckung beschäftigten die Viren die Forscher jedoch hauptsächlich wegen ihrer krankmachenden Eigenschaften. Das ist nicht verwunderlich, denn gegen viele der Krankheiten, die die Menschheit – oft seit Jahrtausenden – plagten, gab es lange kein Mittel: Die Masern haben ganze Kulturen ausgelöscht, die Pocken hinterließen bei jenen, die sie nicht dahinrafften, bleibende Entstellungen, die Spanische Grippe forderte mehr Todesopfer als der Erste Weltkrieg.
Dass wir mit jedem Salatblatt eine große Anzahl harmloser Viren mitessen und bei jedem Gang nach draußen durch einen Schwarm Virenpartikel wandern, die uns nichts anhaben, ist eine relativ neue Erkenntnis.
Viren, so groß wie Bakterien
Im Wasser eines Kühlturms in England hatten Mikrobiologen 1992 eine bis dahin unbekannte Mikrobe entdeckt – und hielten sie aufgrund ihrer Größe für ein Bakterium. Zehn Jahre sollte es dauern, bis ein Team um den südfranzösischen Infektiologen Didier Raoult, der während der Corona-Krise mit der Propagierung des Medikaments Hydroxychloroquin überregionale Bekanntheit erlangte, den Irrtum entdeckte. Es handelte sich um ein Virus, er nannte es »Mimivirus« – ein Virus, das so tut, als wäre es eine Mikrobe, ein lebendiger Organismus. In den folgenden Jahren wurden noch etliche weitere solcher Riesenviren gefunden, die allesamt ganz besondere Merkmale tragen. Ihr Wirt sind Amöben und ihre Erbsubstanz ist von einer Doppelhülle umgeben, deren äußere einen vieleckigen Körper darstellt. Andere, etwas später isolierte Riesenviren haben die Form einer griechischen Amphore und werden deshalb Pandoraviren genannt. Im Gegensatz zu ihren winzigen Verwandten verfügen sie alle über ein üppiges Erbgut. Bei Pandoraviren ist es nahezu so umfangreich wie jenes von Einzellern, und genetisch verfügen sie über fast alles, was zur Eiweißproduktion benötigt wird. Damit verschwimmt die Grenze zwischen Viren und Lebewesen. 2013, als die französische Forschergruppe weitere Riesenviren entdeckte, hieß es im Wissenschaftsmagazin »Nature«, diese neu identifizierten Mikroben würden einen bis dahin unbekannten Teil des Lebensbaums sichtbar machen.32
Auch wenn die Existenz der Riesenviren erst unlängst bekannt wurde, so sind sie doch steinalt. Mindestens 30.000 Jahre, denn in einem so alten Stück sibirischen Permafrostbodens wurde ebenfalls ein Riesenvirus entdeckt. Seine DNA hatte überdauert und das Virus konnte wieder infektiös gemacht werden.33
Obwohl Viren für gewöhnlich immer noch nicht zu den Lebewesen gezählt werden, können sie sich verändern. Oft sind sie schlampig, wenn es um Vermehrung geht, und mutieren innerhalb des Reproduktionszyklus. Danach können sie anders aussehen oder sich anders verhalten. Das kann langsam vor sich gehen, oder es können mit einem Schlag mehrere Eigenschaften verändert werden. Und aus einer harmlosen Mikrobe kann, wenn sie einen anderen Wirt befällt, etwa von Tieren auf Menschen überspringt, eine Bedrohung werden, ein Supervirus, das sich schnell verbreitet und schwerwiegende Gesundheitsschäden verursacht.