Gesang der Lerchen. Otto Sindram

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Gesang der Lerchen - Otto Sindram

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der bis dahin nur zugehört hatte, sagte ruhig, dass es notwendig sei, Abstand zu der Zeit zu haben, wolle man ihre Eigenarten und Gesetzlichkeiten erkennen und mit den Mitteln der Kunst über sie urteilen. Werner Peitz bemerkte, dass mit dem Marxismus eine wissenschaftliche Methode zur Verfügung stände, mit der man eben auch die Gegenwart erfassen und über sie urteilen könne.

      Brecht stand auf und sagte mit leiser Stimme, er empfehle den jungen Leuten, das Leben kennen zu lernen und so lange nicht über Dinge zu reden, von denen sie nichts verständen. Jetzt aber seien sie dumme Jungen und noch nicht trocken hinter den Ohren. Danach verließ er den Raum, seine Frau, die Schauspieler und einen Saal mit einem Teil empörter, einem geringeren Teil verwirrter und mit wenigen beschämten Studenten zurücklassend.

      Das folgende Schweigen war nur von kurzer Dauer, dann redeten alle wild durcheinander, standen auf, gestikulierten und liefen umher. In der Saalmitte stand Helene Weigel, und um sie herum bildete sich ein Kreis junger Leute.

      »Er hatte sich so auf diesen Abend gefreut«, sagte sie. »Sonst geht er ja nirgendwohin, außer zum Theater. Er nimmt keine Einladungen an, aber zu den Arbeiterstudenten, da wollte er gerne gehen. Und jetzt das!«

      »Wenn er mit Arbeiterstudenten reden wollte«, sagte Philipp, »dann hätte er das sagen sollen. Das wäre sicher ein ganz kleiner Kreis geworden, denn die Arbeiterkinder kann man hier an einer Hand abzählen.«

      Am nächsten Abend war durch die nach Westen gehenden Fenster des Heimes eine ungewöhnliche Erscheinung zu beobachten. Leuchtschrift huschte über die Trümmerlandschaft der Reichskanzlei und verbreitete die neuesten Nachrichten in Schlagzeilen.

      Auf dem Westteil des Potsdamer Platzes, gleich hinter dem Schild mit der Aufschrift »Sektor der Freiheit« war eine am Tage unscheinbar wirkende Metallkonstruktion aufgestellt worden, bestehend aus zwei Ständern und einer diese Ständer verbindende Brücke. Diese Brücke war seitlich mit unzähligen Glühbirnen bestückt, welche am Abend nacheinander und Buchstabenmuster bildend kurz aufleuchteten, wieder erloschen, in anderer Anordnung erneut aufleuchteten und so den Eindruck fortlaufender und zu ganzen Sätzen gefügter Wörter ergaben. Die staunenden Studenten erhielten ihre erste Lektion in kapitalistischer Information, nachdem sie am Tage im Studium, im Neuen Deutschland oder im DDR-Radio die sozialistische Sicht des Weltgeschehens erfahren hatten.

      Gleich am folgenden Tage wurde eine Parteiversammlung der Genossen Heimbewohner einberufen, welche die Panne mit der Brecht-Einladung diskutieren und im zweiten Teil Schritte gegen die westliche Provokation und Vergiftung unschuldiger junger Menschen beschließen sollte.

      Zum Verhalten des Herrn Brecht war man sich bald einig. Die Studenten traf keine Schuld, aber dem Dramatiker fehlte es ganz eindeutig an sozialistischer Bildung. Zu der Leuchtschrift machte der Genosse Heimleiter den Vorschlag, er könne den Genossen Hausmeister beauftragen, die Fenster der Vorderfront innen bis zur Kopfhöhe mit Decken zu bespannen. Andere äußerten dagegen Bedenken, weil man die Zweierzimmer nicht ständig kontrollieren könne und weil durch eine solche Maßnahme erst recht das Interesse für die Leuchtschrift geweckt würde. Schließlich einigte man sich auf eine Resolution, in der diese Provokation auf das Schärfste verurteilt und an alle Heimbewohner appelliert wurde, diesen kapitalistischen Verdummungsversuch mit Nichtbeachtung zu strafen. Man war sich einig, dass es völlig unnötig und gefährlich sei, neben den von der Partei und ihren Organen verbreiteten Informationen auch noch andere zu empfangen, denn die Partei, und nur die Partei, die habe immer Recht.

      Auch Christian und Philipp stimmten der Resolution zu. Dann gingen sie zu Lena und Isa ins Zimmer, schauten sich gemeinsam mit den Frauen das Wunderwerk an und lasen die Schlagzeilen aus dem Westen.

      Wenn man sich an den folgenden Abenden im großen Saal traf, so waren alle redlich bemüht, nicht aus den Fenstern zu schauen. Zwangsläufig galt nun das Interesse mehr den Auslagen auf den Tischen. Und so kam es, dass Werner ein Sexheft aus westlicher Produktion mit voll- und nacktbusigen Frauen entdeckte, das Philipp dort vergessen hatte. Es war im Hause üblich, dass, wer ein solches Heft sein Eigen nannte, es nach dem Studieren an andere Interessenten weitergab Dieses Heft gehörte Christian. Philipp sollte es nach dem Lesen weitergeben an einen Slawistikstudenten. Der aber war an diesem Abend nicht erschienen, und so hatte Philipp das Heft liegen gelassen. Werner beantragte eine Parteiversammlung, auf der Philipp sich verantworten sollte. Die Versammlung wurde wegen der Dringlichkeit kurzfristig einberufen.

      Zuerst hielt Werner eine Rede, in der er gegen den Einfluss westlicher Dekadenz im Allgemeinen wetterte und vor der Demoralisierung der Partei durch Agenten aus Westdeutschland warnte. Typisch für solche Leute sei, dass sie es nicht nötig fänden, an Geburtstagsfeiern zu Ehren des großen Stalin teilzunehmen. Er beantragte den Parteiausschluss des Genossen Philipp, seinen Verweis von der ABF und als eine einjährige Bewährung in der Produktion seine Beschäftigung im Uranbergbau Wismut-Aue.

      Philipp wehrte sich dagegen und meinte, dass er keine Demoralisierung der Partei darin sehe, wenn zwei Menschen sich privat ein Vergnügen teilten. Das aber brachte Werner erst recht auf.

      »Für Genossen gibt es nichts und nirgendwo Privates. Wo zwei Genossen zusammen sind, da ist die Partei!«

      »Gut«, sagte Philipp, »das habe ich jetzt begriffen. Wo auch immer zwei sich treffen, da ist die Partei, und sei es vor einer Wechselstube in Westberlin.«

      Christian sprang auf.

      »Es ist auf jeden Fall zu verurteilen, westliche Unmoral zu verbreiten. Aber der neue Mensch im Sozialismus, der kann doch nur durch Änderung des heutigen Menschen geschaffen werden, und das braucht Zeit, Genossen, dazu muss man Geduld haben. Philipp kommt aus der Arbeiterklasse, aus dem Westen zwar, aber aus der Arbeiterklasse, und die westlichen Arbeiter sind eben noch nicht so weit wie die Arbeiter bei uns, besonders wie du, Genosse Werner. Und wenn wir beschließen, dass Philipp von der ABF gehen muss, dann können wir auch gleich eine Namensänderung für die ABF beschließen: Fakultät ohne Arbeiter, von den Bauern gar nicht zu reden. Und zu der Bewährung im Uranbergbau, Genossen: Was sollen die Bergarbeiter in Aue davon halten, wenn sie hören, dass da jemand kommt, der bestraft wurde, die gleiche Arbeit zu machen wie sie. Machen die Bergarbeiter denn Strafarbeit? Nein, Genossen, die Kumpel in Aue leisten durch den Uranabbau einen ganz wichtigen, vielleicht den wichtigsten Beitrag zum Sieg des Sozialismus. Die Besten unter uns müssten gerade gut genug sein, einen solchen Ehrendienst leisten zu dürfen. Ich könnte mir gut vorstellen, Genosse Werner, dass du für einige Zeit dort arbeiten möchtest.«

      Andere Genossen sahen das ähnlich. Werner zog schließlich seinen Antrag zurück, und es wurde beschlossen, die Angelegenheit bis nach dem Abitur zurückzustellen und dann erneut zu diskutieren.

      Das Abitur rückte näher, die Treffen im Haus gingen weiter. Eines Abends gab es einen großen Tumult auf der Frauenetage. Zwei gemeinsam in einem Zweierzimmer wohnende Pädagogikstudentinnen stritten sich lautstark und lagen sich buchstäblich in den Haaren. Alle, die schlichten wollten und versuchten in das Zimmer der Streitenden einzudringen, bekamen Prügel und mussten fliehen. Endlich gelang es dem Heimleiter, die Studentinnen soweit zu beruhigen, dass sie ihn in ihr Zimmer ließen und ihm ihre Herzen öffneten: Beide waren schwanger, und jede hatte die andere zur Abtreibung überreden wollen, selbst aber wollte keine abtreiben lassen. Sie wollten beide ihr Kind austragen und den Kindsvater heiraten. Es gab nur ein Problem: Beide waren von demselben Mann geschwängert worden − vom Genossen Werner Peitz.

      Werner, der wie Christian und Philipp in einem Zweierzimmer wohnte und eifrig die fortschrittliche Art der Liebe praktizierte, konnte sich mit seinem Zimmergenossen über den Bettenwechsel nicht einigen. Und so war er ohne Gegenverkehr abends in das Zimmer der angehenden Pädagoginnen gegangen und konnte auf Dauer seine Gunst nicht nur einer gewähren. Die Studentinnen mussten ausziehen. Der Heimleiter wurde entlassen. Werner musste ebenfalls sofort ausziehen und bekam von

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