Gesang der Lerchen. Otto Sindram
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»Da sind Sie ja noch gar nicht alt!« So alt wie mein Vater, als er verunglückte, dachte Philipp. »Und Ihre Frau?«, wollte Lena weiter wissen.
»Die ist auch fünfundvierzig; wir sind zusammen in eine Klasse gegangen.«
»Ich meine, wie wird sie mit all der Arbeit fertig?«
»Wie? Gut, sie hat doch Hilfe durch die Kinder. Und dann ist sie immer im Haus, im Trockenen, und sie hat es warm.«
»Na, ich weiß nicht!«
»Sicher doch«, beteuerte der Holzfäller. »Kinder sind ein Segen, besonders für die Frauen. Ich gebe euch mal einen Rat: Heiratet und macht euch viele Kinder, das bringt Spaß, äh, ich meine, dann ist immer Leben im Haus, und wenn ihr mal alt seid, kommen die Kinder und kümmern sich um euch.«
»Möchtest du auch mal viele Kinder haben?«, fragte Isa abends im Bett.
»Weiß ich nicht«, antwortete Philipp.
»Ich möchte viele Kinder, vielleicht keine acht, aber drei oder vier dürfen es schon sein. Wenn wir heiraten sollten, dann müssen wir uns aber vorher einigen.« Philipp blieb still. »Ich habe Gerd geschrieben«, sprach Isa weiter, »dass ich jetzt einen anderen Freund habe; er soll nicht länger auf mich warten. Meinen Eltern habe ich auch von uns erzählt. In den Sommerferien, wenn wir wieder einen Interzonenpass bekommen, dann möchten sie dich kennen lernen.«
Am Weihnachtsmorgen stellte der Wirt eine Fichte in den Aufenthaltsraum des Ferienheims und schmückte sie mit Glaswolle als Engelhaar und mit Stanniolstreifen. Für den Abend lud er seine Hausgäste zu einem Festessen ein. Es gab Kartoffelsalat, selbst gebackenen Kuchen, Bier und für die Frauen eine Waldmeisterbowle. Gemeinsam sang man Weihnachtslieder; Isa und Lena sangen Lieder aus Operetten und Opern. Christian und Philipp begleiteten sie dabei abwechselnd auf einem mit Pergamentpapier umwickelten Kamm.
Eine Frau begann auf einmal laut zu weinen. Sie war alleine angereist und hatte sich bisher wenig am Gemeinschaftsleben beteiligt. Isa und Lena versuchten sie zu trösten und durften sich dafür ihre Geschichte anhören.
Die Frau schimpfte auf ihren Mann und nannte ihn einen Schuft und Hurenbock. Sie habe ihn im Krieg kennen gelernt, einen Feldwebel mit einer schmucken Uniform. Sie schrieben sich heiße Feldpostbriefe, und bei seinem nächsten Fronturlaub haben sie geheiratet. Die ganze weitere Kriegszeit und die Zeit seiner Gefangenschaft habe sie treu und brav auf ihn gewartet. Und nun, kaum zurückgekehrt aus Russland, sei er zu einer Jüngeren gezogen.
Ein älteres Ehepaar berichtete von seinem einzigen Sohn, der Schwiegertochter und dem geliebten Enkel. Die Alten hätten die junge Familie in ihr Haus genommen, und nun verbiete ihnen die Schwiegertochter den Umgang mit dem Enkel, weil sie ihn angeblich verziehen würden. Da wollten sie auch nicht mit den jungen Leuten Weihnachten feiern.
Einem älteren Mann war gerade die Frau gestorben, und er wollte Weihnachten nicht bei den Kindern sein und sich bemitleiden lassen. Plötzlich stand Christian auf.
»Schluss! Ich muss mir das nicht alles anhören. Komm, Lena!«
Isa und Philipp folgten ihnen bald und gingen auch in ihr Zimmer. Kaum aber lagen sie zusammen in Philipps Bett, klopfte es, Christian und Lena standen in der Tür.
»Dürfen wir zu euch kommen?«
Isa erlaubte, dass die zwei in ihr freistehendes Bett gingen. Man sprach noch eine Weile über das kommende Jahr, über das Leben im Heim, über die Dozenten und über die eigenen Familien. Christian berichtete, dass seine Großmutter gestorben sei und am Tage der Reise nach Thüringen begraben werden sollte. Er wollte die Reise nicht absagen und habe daher geschwiegen. Von seinem Großvater erzählte er, dass der 1945 nach der Kapitulation sich geweigert habe zu essen und bald auch an Entkräftung gestorben sei.
Lena erzählte von ihrem Elternhaus und dass sie schon seit Jahren Weihnachten nicht mehr zu Hause, sondern bei ihrer älteren Schwester verbringe und, seit sie in Berlin wohnte, auch in den Ferien dorthin ginge. Ihr Vater, in der Nazizeit und auch jetzt wieder ein Polizeioffizier, habe erst ihre Schwester und nach deren Auszug sie missbraucht. Die Mutter wisse davon und habe zu alledem geschwiegen.
»Macht endlich das Licht aus!«, sagte Christian.
Gleich am Morgen des ersten Schultages im neuen Jahr kam Sophie auf Philipp zu.
»Wo warst du denn? Ich habe dich gesucht, war sogar im Studentenheim, aber niemand wusste, wo du geblieben warst. Man sagte mir nur, du seist mit Christian weggefahren. Mutti hatte uns zu Weihnachten eingeladen; sie wollte mit uns auch den Einzug in ihre neue Wohnung feiern. Bei der Stalin-Feier hast du ebenfalls gefehlt; als ich Mutti davon erzählte, konnte sie das nicht verstehen und war ärgerlich.«
Am nächsten Tag erhielten Christian und Philipp Post mit gleichlautendem Inhalt: Aufgrund der Tatsache, dass Sie am 21. 12. 1949 der Stalin-Feier ferngeblieben sind, erteilen wir Ihnen wegen Ihres gemeinschaftswidrigen Verhaltens eine Verwarnung. Diese Verwarnung wird in die Beurteilung der gesellschaftlichen Arbeit beim Abitur einbezogen, wenn Sie nicht bis dahin durch besonderen Gemeinschaftseinsatz einen Ausgleich geschaffen haben.
Der Studiendirektor | Der Direktor |
Reitmann | Hauke |
Christian nahm die Anzeige vom Tode seiner Großmutter mit dem 21. 12. als Bestattungstag und ging zu Reitmann. Seine Verwarnung wurde zurückgezogen.
Der Winter verging, das Frühjahr kam und damit die Vorbereitung auf die Abiturprüfungen. Wenn auch das Lernen mehr Zeit erforderte als bisher, so blieb doch weiterhin Zeit für die abendlichen Gesprächskreise und Treffen im Heim. Es gab laufend Neuigkeiten, die in den abendlichen Runden diskutiert werden wollten.
Die Provisorische Volkskammer hatte das Ministerium für Staatssicherheit gebildet und das »Gesetz der Arbeit« verabschiedet, nach dem die Erhöhung der Arbeitsproduktivität angestrebt und gleichzeitig Lohnabzüge von den Arbeitern bei Ausschussproduktion beschlossen wurde.
Im Gesprächskreis der Heimstudenten war man sich schnell einig, dass der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden wachsam sein musste und dass die Arbeiter nur ein Recht auf guten Lohn hatten, wenn sie qualitätsvolle Arbeit leisteten. Philipp dachte an die Geschichte mit dem »Wagen-Nullen« im Bergbau, von der sein Großvater ihm erzählt hatte, und er dachte an die Holzfäller am Rennsteig – sein erster Kontakt mit Arbeitern in Ostdeutschland.
Auch die Kultur kam nicht zu kurz. Die Musikstudentinnen brachten verbilligte bis kostenlose Theaterkarten mit, und so gab es zwar »saure Wochen«, aber eben auch weiterhin »frohe Feste«.
Nach dem Besuch einer Aufführung von Brechts Mutter Courage im Deutschen Theater und dem Gespräch am Abend darüber kam jemand mit der Idee, den Dramatiker ins Studentenheim einzuladen. Brecht kam, brachte seine Frau Helene Weigel mit und einige Schauspieler. Der Saal im Heim war gefüllt mit Menschen. Christian war nicht erschienen.
Der »die Stange« genannte Student war auserwählt, einige Begrüßungsworte an die Gäste zu richten. Er hielt eine lange Rede. Vom Aufbau des Sozialismus in einem Teil Deutschlands sprach er und davon, dass die Menschen das seltene Glück hätten, in einer so außergewöhnlichen Zeit und in diesem fortschrittlichen Land zu leben. Der größte Dramatiker dieser Zeit aber brächte Themen aus längst vergangenen Tagen auf die Bühne, statt sich dem Heute zuzuwenden