Er, Sie und Es. Marge Piercy
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Gadi war ruhelos, gereizt. Gelangweilt. Er wickelte die Lehrerinnen um den Finger und kam recht gut aus mit einigen der jüngeren Männer, aber mit den älteren Lehrern stand er auf dem Kriegsfuß, in ihnen sah er Ebenbilder von Avram. Sie kannte ihn so gut, wie sie ihren eigenen Körper kannte, ihr eigenes Zimmer mit der Kletterrose um das Fenster, aber das hieß nicht, dass sie ihm helfen konnte. Sie schwebte den Flur entlang in einem Nebel der Ungewissheit, in der linken Hand hielt sie die Hochschulliste. Die Stille des Hotels, ihre alte Gewohnheit, hier oben leise und verschwiegen zu sein, hielt sie davon ab, seinen Namen zu rufen.
Dann hörte sie seine Stimme aus ihrem blauen Zimmer. Warum redete er mit sich selbst? Er lernte wohl: gut. Er hatte Schwierigkeiten mit Fremdsprachen, denn er hasste es, sich wie ein Kind zu fühlen, unfähig, sich auszudrücken. Vielleicht lernte er Chinesisch oder Portugiesisch, denn er brauchte in beidem eine gute Note. Wahrscheinlicher war, dass er am Computer arbeitete. Im Design-Unterricht hatte er strahlende luftige Brücken aus dünnem Metall entworfen, Spinnweben aus Licht und Raum. Er stahl die Zeit von anderen Fächern, um daran zu arbeiten. Sie konnte ihm kaum einen Vorwurf machen. Sie waren schön. Sie beruhigten den Geist zu Kontemplation.
An der Tür klopfte sie sacht, diese leichte Berührung, die sie beide füreinander benutzten, dann öffnete sie sofort. »Gadi?« Zwei Schritte im Raum blieb sie stehen und starrte. Einen Augenblick lang fühlte sie überhaupt nichts, denn sie glaubte einfach nicht, was sie sah. Es war unmöglich. Es war nicht einmal Stoff aus einem Alptraum, denn diese Szene hatte sie sich in ihrer Phantasie nie vorgestellt.
Gadi war nackt auf dem Feldbett, auf dem sie viele hundert Mal gelegen hatten, aber mit ihm verschlungen war ein anderer Körper anstelle des ihren, den sie fast dort zu sehen erwartete, denn bei Gadi musste Shira sein. Nein, das nackte Mädchen, das unter ihm ausgestreckt lag, war Hannah, die einen scharfen Schrei ausstieß wie ein Tuch, das reißt, und dann tat sie, was sie immer tat, sie kicherte.
Gadi … Gadi starrte sie wütend an. »Spionierst du mir nach?«
Sie konnte nicht sprechen. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie konnte nicht aufschreien oder Luft holen. Stattdessen stolperte sie den Flur entlang, taumelte gegen Wände, die Treppe hinunter wie eine fallende Schachtel, rutschte und glitt, zerbrach in Stücke. Sie musste so viel Lärm gemacht haben, dass Avram sie gehört hatte, denn er stand unten im Treppenhaus. »Leise«, sagte er und packte sie hart am Arm. »Mit wem ist er da oben?«
»Hannah Leibling«, würgte sie heraus und riss sich von ihm los.
»Ich dulde niemand anders da oben«, sagte Avram und stieß die Hände in die Taschen seines Kittels. Er schien sie trösten zu wollen. »Ich werde sie für dich hinauswerfen, kleine Shira.« Da begann sie zu weinen, die Tränen erstickten sie. »Geh du an eine gute Universität und vergiss meinen nichtsnutzigen Sohn. Er ist deine Anhänglichkeit nicht wert, Shira. Die besten Universitäten sind in Europa. Geh und genieße.«
Sie schluchzte zu heftig, um zu atmen. Sie konnte nicht ertragen, dass jemand sie sah. Sie rannte an ihm vorbei die Treppe hinunter auf die Straße.
Avram rief ihr nach, seine Stimme war scharf vor Besorgnis: »Shira, sei ruhig! Sei ruhig! Das bedeutet ihm nichts.«
Sie rannte zu dem Schuppen, wo sie ihre alten Schutzhäute aufbewahrten. Sie streifte ihre über und machte sich auf den Weg in die Ödnis. Sie ging nicht weit. Sie kletterte auf eine Düne und fiel in den warmen Sand. Auf der einen Seite erstreckte sich die weite, flache Bucht, die Ruinen der zerstörten Stadt lugten aus den Wellenstrudeln. Nach Süden konnte sie über die automatische Entsalzungsanlage hinweg aufs Meer schauen. Der Kühler in ihrer Schutzhaut summte. Sie konnte die kleine rote Zeile in der Ecke ihrer Gesichtsplatte lesen, die ihr die Temperatur anzeigte. Es waren achtundzwanzig Grad Celsius, ein schwacher Backofen, ein typischer später Maitag in Neuengland.
Sie dachte, vielleicht war sie gestorben, denn eine tiefe Starre überkam sie. Aber es war nur das Tal der Schmerzwoge, die einen Augenblick später über ihr zusammenschlug. Sie wusste nicht, was mit sich anfangen. Sie fühlte sich wie ein zerfetztes Ding, ein Kaninchen, das in einen Ventilator gerannt war.
Wie konnte Gadi mit dieser ordinären Ziege schlafen? Sie hatten Hannah immer ausgelacht. Hannah hatte Gadi seit Jahren schöne Augen gemacht. Shira konnte ihr lautes Kichern hören, ein Gegluckse wie Wasser, das in einem Rohr abfließt. Wie konnte Gadi nur? Sie wollte Zorn auf ihn spüren, aber der Schmerz verdrängte ihn völlig.
Sie würde ihre Schutzhaut ausziehen und sich der mörderischen Sonne aussetzen, deren Strahlung sie umbringen würde. Sie würde sterben, und Gadi würde verstehen, wie sehr sie ihn geliebt hatte und wie sehr sein Treubruch sie verletzt hatte. Sie sah sich selbst voller Frieden auf einem Brett liegen. Sie sah den schlichten Steinhaufen auf ihrem Grab. Gadi würde dorthin kommen, um zu trauern.
Das war ein langsamer Tod, Hitze und Austrocknung. Strahlung brauchte Monate, um zu töten. Sie würde ihren Anzug nicht ausziehen, ganz egal, wie sehr ihr nach Sterben war. Malkah hatte sie zu nüchtern erzogen. Außerdem konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, was Hannah den anderen Mädchen erzählte: Ach weißt du, ich fühle mich ganz schrecklich. Shira hat sich wegen Gadi und mir umgebracht. Er konnte einfach nicht von mir lassen und das arme Mädel hat sich vor Eifersucht verzehrt. Shira krabbelte auf die Knie, dann stand sie auf. Eifersucht war hässlich, peinlich, abscheulich. Sie stolperte zurück. Die Schutzhülle glitzerte wie falsche Hoffnung, die über der Stadt schwebte.
Sie ging nach Hause. Als sie zur Tür sprach, wusste sie nicht, wie sie dorthin gelangt war. Hermes lag im Innenhof und sonnte sich – die Sonne, die durch die Hülle drang, war gefiltert, sicher, warm, aber nicht sengend. Er war jetzt in mittleren Jahren, zwölf, und so massig wie immer, nicht fett, sondern kräftig, ernsthafter und gelassener als früher. Sie warf sich neben ihn auf die warmen Fliesen, begrub ihr Gesicht in seinem heißen braunen Fell und weinte hemmungslos.
»Leidest du Schmerzen, Shira?«, fragte das Haus sanft. »Soll ich Malkah rufen? Brauchst du Hilfe?«
»Ich will in Ruhe gelassen werden!«
»Erzähle es mir. Du weißt, ich bewahre deine Geheimnisse. Was fehlt dir?« Das Haus wusste zu erweichen. Früher war es ihre zweite Mutter. Hielt es wirklich Geheimnisse vor Malkah zurück, die es programmiert hatte?
»Lass mich bloß in Ruhe!«
Sie hörte Malkah nicht kommen und bemerkte sie erst, als sie neben ihr hockte und sehr leise sagte: »Ich mache schav, Kleines. Manchmal kann etwas so Saures helfen.«
Für einen Augenblick bohrte in ihr der Verdacht, dass Malkah wusste, dass jeder wusste; dann gewann ihre Nüchternheit, und ihr wurde klar, dass ihre Stellung ihren Zustand verriet. »Ich habe keinen Hunger.«
»Dann iss mir zu Gefallen. Ein bisschen Suppe, wie hungrig musst du dafür sein?«
Sie spürte, wie unwürdig das war, wie sie da mit dem Gesicht nach unten auf den Fliesen lag, und setzte sich auf. Malkah nannte sie »Kleines«, war aber gleich groß, nur ein paar Pfund fleischiger. Sie hatten das gleiche dunkle Haar, schwarz im Lampenlicht, mit Rottönen in der Sonne; die gleichen großen, sehr dunklen Augen, riesig in ihren herzförmigen Gesichtern; aber Malkah war natürlich eine alte Frau, einundsechzig Jahre alt. Sie trug ihr dunkles Haar in einem Zopf um den Kopf geflochten und oben festgehalten mit einer silbernen Spange in Form eines Delfins. Ein Rettungstaucher hatte sie ihr geschenkt. Erst vor kurzem war Shira eingefallen, dass er damals wahrscheinlich ihr Liebhaber war. Shira war zu der Zeit zu jung, um es zu verstehen, neun, zehn, elf; und Malkah war diskret. Kein Mann hatte je in diesem Haus gewohnt. Malkah hatte nie geheiratet. Wenn du heiratetest und ein Mann tat dir weh, so erkannte Shira, dann hattest du keinen Ort, an