Er, Sie und Es. Marge Piercy
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Ich erinnere mich, wie ich zu ihr von der Macht des Benennens sprach. Was wir nicht benennen können, sagte ich, darüber können wir nicht reden. Wenn wir etwas in unserem Leben einen Namen geben, dann können wir ihm damit Macht geben, so, wenn wir einen Lustreiz Liebe nennen, oder wenn wir unseren Neid Redlichkeit nennen; oder wir können uns selbst Macht geben, denn jetzt können wir über etwas denken und reden, was uns wehtut, wir können mit anderen zusammenkommen, die den gleichen Schmerz verspürt haben, und so können wir versuchen, etwas damit anzufangen.
Aber ich redete in der befangenen Art, in der man zu Kindern spricht. Die Bühne des Lebens ist voller kleiner Wahrheiten, die nicht ganz zusammenpassen. Ich weiß, was der Maharal empfand, denn in aller Schöpfung, in Wissenschaft wie Kunst und in Bereichen wie meinem, wo Wissenschaft und Kunst sich treffen und mischen, in der Erzeugung von Schimären aus Pseudodaten, Desinformation und inneren Phantasiewelten, ist ein wirkliches Neuerschaffen. Wir nehmen an der Schöpfung teil mit ha-schem, dem Namen, dem Wort, das uns spricht, dem Atem, der Leben durch uns singt. Wir sind Werkzeug und Gefäß und Wille. Wir stehen in Verbindung durch Kräfte, die unser eigenes, bruchstückhaftes Bewusstsein übersteigen, mit dem Rest des Lebewesens, das wir alle zusammen ausmachen. Die Kraft fließt durch uns hindurch ebenso wie durch den Tiger und durch die Eiche und durch den Fluss, der über seine Felsen bricht, und wir kennen in unserem Kern das Feuer, das die Sonne nährt.
Ich verstehe, was Avram, mein einstiger Geliebter, empfand, als er in seinem Labor eine Person erschuf, denn das Gleiche geschah, als er seinen Schwanz in Sara steckte und sie zusammen Gadi machten. Denn das Gleiche geschah, als ich Riva gebar und sie neben mir lag, real und rot und schreiend. Jedes Leben ist neu. Jedes Wort spricht sich ständig zum ersten Mal: Geburt, Liebe, Schmerz, Sehnsucht, Verlust. Jede Mutter formt Lehm zu Cäsar oder Madame Curie oder Jack the Ripper, unwissend, in blinder Hoffnung. Aber jede Künstlerin erschafft mit offenen Augen, was sie im Traum sieht.
Ich habe an Rosch Chodesch in der Finsternis des Waldes bei dem flüsternden Strom gestanden, und ich habe die Kräfte gerufen, dass sie durch mich etwas zu Leben befeuern, was noch nie gewesen ist. Das hätte ich ehrlicherweise Gadi und Shira erzählen müssen, als sie im Hof beim blühenden Pfirsichbaum mit seinen rosa Blüten mir zu Füßen saßen und ich ihnen diese Geschichte erzählte. Ich hätte sagen müssen, ich bin der Maharal und ich mache den Golem mit den besten und kraftvollsten Momenten meines ganzen Lebens, und das tut auch Avram, und das, meine Lieben, werdet einst vielleicht auch ihr tun. Schöpfung ist immer lebensgefährlich, denn sie gibt wahrhaft Leben dem, was noch nicht begonnen hatte, und Stimme dem, was stumm war. Sie bringt Kunde, die unbekannt war und ohne deren Wissen es vielleicht um unsere Seelenruhe besser bestellt war. Das Neue ist notwendigerweise gefährlich. Auch du wirst das an deiner Natur akzeptieren müssen, Yod, denn du bist wahrhaft neu unter der Sonne.
8
ShiraWie soll ich dich anreden?
Als Shira in Avrams altes Labor im ersten Stock eines ehemaligen Hotels eingelassen wurde, wollte sie wissen: Ist Gadi noch da? Sie wünschte, sie könnte einfach hineingehen und Avram ohne Umschweife fragen, denn sie würde sich wesentlich befreiter konzentrieren können, war das erst einmal abgehakt. Das Gebäude beunruhigte sie. Ihr Magen krampfte sich zusammen und ihre Hände ballten sich zu feuchten Fäusten. Sie fühlte sich, als sei sie wieder siebzehn, unwissend, bange, ein Geschöpf ganz aus stürmischen Gefühlen und Schmerz.
Ein Standard-Dienstroboter, mit aufrechtem Gang, aber mit Gesichtsplatte und vier Metallhänden, ließ sie ein. »Ich bin Gimel. Folge mir bitte.« Die Stimme war so ausdruckslos wie ein Fahrstuhl oder ein Speiseautomat. Gimel war das dümmliche Cyborg, den Avram in ihrem letzten Jahr daheim gebaut hatte. Sein Gesicht und seine Hände waren nicht mehr mit künstlicher Haut verkleidet. Vielleicht hatte Avram es aufgegeben, verbotene Cyborgs zu bauen, die Menschen ähnelten. Sie musste im äußeren Labor warten, während Gimel im verschlossenen inneren Labor rückfragte.
Gimel führte sie durch eine Reihe von Sicherheitsschleusen. Als sich die Tür schließlich öffnete, stand ein dunkelhaariger Mann auf der anderen Seite, von mittlerer Größe und kräftigem, gedrungenem Körperbau – offenbar eine Sicherheitswache, denn er stand unmittelbar bei der Tür in geduckter Verteidigungshaltung, die Hände schlagbereit. Sie war genug übersensibilisierten, reizbaren Sicherheitsaffen begegnet, um sofort stehen zu bleiben, unwillkürlich hielt sie den Atem an, hielt die Hände vollkommen still und sichtbar. Zuletzt hatte sie einem Affen gegenübergestanden, als sie sich über Aris Verbringung auf die Pazifika-Plattform beschweren ging. Dr. Yatsuko, der korpulente Leiter der Abteilung für Künstliche Intelligenz, hatte sie persönlich empfangen, zum allerersten Mal, seit sie dort arbeitete. Es war fast ein Skandal, vor ihn gebracht zu werden, aber sie war viel zu sehr außer sich vor Kummer und Sorge. Zwei Affen hatten ihm während ihres vierminütigen Wortwechsels zur Seite gestanden, als könnte ihre empörte Mutterliebe sie dazu verleiten, mit Zähnen und Nägeln über ihn herzufallen.
»Yod! Es besteht keine Notwendigkeit, mich zu verteidigen.« Avram kam auf sie zu und rieb sich munter die Hände. Sein Haar war vollkommen weiß und seine Augen blitzten so hart und hell wie in ihrer Erinnerung. »Willkommen, Shira.«
Der Wachmann zog sich an die Wand zurück. Seine Augen blieben auf die Tür gerichtet, bis sie zuging und die Schlösser automatisch einrasteten. Sie drückte sich, immer noch etwas ängstlich, an ihm vorbei. Sie hoffte, Avram würde den Wachmann wegschicken, damit sie ohne seine rastlose Anwesenheit reden konnten. Niemals hatte es in der Zeit, als sie dort aufwuchs, professionelle Affen in Tikva gegeben. Die meisten Bewohner übernahmen Wachpflichten, und der Sicherheitsbeauftragte wurde in einer Stadtversammlung gewählt. Sie war enttäuscht, dass professionelle Sicherheit hier Einzug gehalten hatte.
Avram nahm ihren Ellbogen und lenkte sie zu seinem Arbeitstisch. »Yakamura-Stichens Verlust ist mein Gewinn. Ich brauche deinen Sachverstand, Shira. Ich biete dir Vergleichbares zu dem, was du dort gemacht hast – das habe ich dir schon gesagt.«
»Aber was kann ich tun … Dr. Stein?« Sie dachte an ihn als Avram, aber wenn sie für ihn arbeitete, konnte sie ihn nicht so anreden.
»Ich habe deine Arbeiten gelesen über das Felddichte-Schocksyndrom in der Projektion und über das Schwinden des Zeitgefühls bei ausgebrannten Benutzern. Zu dem, was du hier tun kannst – du hast ja mein Projekt bereits kennengelernt. Yod: Tritt vor!«
Der Wachmann betrachtete sie unverhohlen. Die Neugier stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass sie sich fragte, ob er ein wenig einfältig war. Sein Blick war offen, eindringlich, fragend. Die Regenbogenhaut seiner Augen war dunkelbraun mit grünen Tupfen und hob sich von dem ungewöhnlich porzellanartigen Weiß ab. Sein Haar war fast so dunkel wie ihr eigenes; sein Teint oliv. Er wirkte keineswegs ungewöhnlich unter den verschiedenen Erscheinungstypen in der kleinen Stadt. Er schien mediterraner Abstammung.
Avram stand seitlich zwischen ihnen. »Shira, das ist Yod.«
»Yod? Ein seltsamer Name …«, begann sie, dann brach sie ab, weil sie begriff. Yod war der zehnte Buchstabe des hebräischen Alphabets. Alef, Bet, Gimel … Yod. »Es ist ein Cyborg?«
»Der Cyborg«, verbesserte Avram voll Genugtuung. Er gab Yod einen Klaps auf den Rücken. »Darauf habe ich hingearbeitet. Endlich. Und gerade noch rechtzeitig, wie du bald erfahren wirst. Unsere Situation hier verschlechtert sich radikal. Unsere Basis wird von Informationspiraten angegriffen.«
Sie ging näher, beugte sich vor, um seine Wange zu berühren. Die künstliche Haut fühlte sich warm an, der Oberfläche menschlicher Haut sehr ähnlich, wenn auch trockener. Sie spürte, wie das Cyborg sich unter ihren Fingern spannte, was sie überraschte. Es gab ihr ein Gefühl,