Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy

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ihre Mutter sich entschuldigt. Sie hatte Riva seit zehn Jahren nicht gesehen. Riva war einige Zentimeter größer als sie beide, aber grundsätzlich erinnerte Shira sie als hektische, verhuschte Frau, die immer mit vielen Geschenken kam, alle nicht eingewickelt und im Gepäck versteckt. Dass solch eine Frau Informationspiratin sein sollte, war nicht zu glauben. Industriespionage war bis zu einem gewissen Umfang Bestandteil des Systems, Multi gegen Multi, aber die Piraten waren völlige Außenseiter, Abtrünnige, die Standardschurken in den Stimmies. Zuerst war das Cyborg eine Person, und jetzt das! Malkah nahm sie entweder auf den Arm oder wurde langsam senil und konnte Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden.

      Malkah grinste. »Ich bin nicht verrückt, Shira. Komm, ich zeige dir was.«

      Shira folgte ihrer Großmutter zum Hauptterminal. Alle in der Stadt wechselten sich beim Wachdienst ab und in schwierigen Zeiten trug jeder verbotenerweise, was sie an Waffen besaßen. Sicherheitsinformationen standen allen offen. Alle Welt hatte Zugriff auf diese Netzdatei, die Malkah jetzt aufrief. Während Shira immer noch über Malkahs Geisteszustand grübelte, erschien eine Liste der Verbrechen von Riva Shipman auf dem Bildschirm, dazu eine Warnung vor der Gefahr, die sie für die bestehende Konzernordnung darstellte. Sie hatte die Basen der Hälfte aller großen Multis infiltriert und geplündert. Sie wurde verantwortlich gemacht für den Zusammenbruch des Allevium-Marktes: Allevium hatte sich als wirksam erwiesen gegen die neueste Form der Kisrami-Seuche – die Krankheit, die Malkahs eigene Mutter dahingerafft hatte. Riva hatte offenbar die Medikamentenformel gestohlen und ins Netz gestellt, damit alle sie benutzen konnten. Jede kleinere Region hatte daraufhin ihr eigenes Heilmittel produziert.

      »Wie lange weißt du schon über meine Mutter Bescheid?«

      »Ich kenne sie, seit sie geboren wurde, weißt du«, sagte Malkah mit dem gleichen spitzbübischen, spöttischen Lächeln. »Mir ist seit Jahren bekannt, was sie tut.«

      »Warum hast du es mir nie gesagt?«

      »Was hätte es dir geholfen, wenn du es gewusst hättest?«

      »Was hat es mir geholfen, es nicht zu wissen?«

      »Du hast dich dadurch sicherer gefühlt. Es gab dir die Freiheit, deinen eigenen Weg zu wählen.«

      »Jetzt werde ich mich immer fragen, ob einer der Gründe für meine Vernachlässigung bei Y-S war, dass Riva als gefährliche Rechtsbrecherin gilt.«

      »Nicht ausgeschlossen. Obwohl wir niemals offen miteinander Kontakt haben. Ich könnte mir vorstellen, dass wir sie nicht einmal erkennen, wenn sie kommt – falls sie kommt.«

      »Warum denkst du, dass sie jetzt kommen könnte? Hatte sie die Absicht zu kommen, weil sie Ari will?«

      »Nein, Liebling, sie hatte nie vor, Ari zu nehmen. Ihr Leben ist zu gefährlich, um irgendein Kind bei sich zu haben. Als du Kind warst, habe ich dieses kleine Märchen über unsere Familie erfunden, um dir zu erklären, warum du bei mir aufgewachsen bist und nicht bei deiner Mutter. Damit du keine Fragen stellst. Deine Mutter ist ein politischer Flüchtling und sie lebt von ihrer Geistesgegenwart und ihren Verbindungen.«

      Shira ertappte sich dabei, wie sie die Augen aufriss und ihr der Kiefer herunterfiel. »Willst du mir damit sagen, dass ihr nicht bei euren Großmüttern aufgewachsen seid, seit der zehnten Generation?«

      »Es war eine gute Geschichte, stimmt’s?«, sagte Malkah stolz. »Ich hatte den Eindruck, sie gefiel dir.«

      Aber Shira hatte ein Gefühl, als ob alle Räume ihrer Kindheit plötzlich die Plätze tauschten. Sie war ärgerlich, sogar wütend auf Malkah, weil sie sie angelogen hatte, weil sie sie zum Narren gehalten hatte. In Kinderbüchern buken bobes Kekse und strickten; ihre Großmutter tanzte wie eine Primaballerina durch die Spinnennetze der künstlichen Intelligenz und zählte sich mit früheren Liebhabern in den Schlaf.

      Als Shira an diesem Abend im Bett lag, wirbelten ihr Bruchstücke des Tages durch den Kopf. Jetzt verstand sie ihre ungewöhnliche Position bei Y-S. Wenigstens hatte es nicht an ihren Fähigkeiten gelegen, ihren Arbeitsergebnissen. Durch diese Information fühlte sie sich gerechtfertigt, rehabilitiert, aber gleichzeitig wurde ihre ganze Vorstellung von ihrer fremden Mutter auf den Kopf gestellt. Wenn Riva wirklich bald kommen würde, dann konnte das leicht heißen, dass Shira Ari nie zurückgewinnen würde. Ja, wie konnte sie überhaupt hoffen, ihn Y-S abzuringen? Seine Testergebnisse waren jetzt schon glänzend. Noch auf der Pazifika-Plattform würde Y-S damit beginnen, ihn auszubilden, zu erziehen, zu formen. Auf der Pazifika-Plattform würde es für Josh viel schwerer sein, die Marrano-Identität zu bewahren. Er würde den Einfluss auf Ari verlieren. Y-S würde Ari verschlingen und ihn zu einem ihrer faden Klone machen.

      Warum hatte sie Josh nicht lieben können? Es war ihre alte Ruhelosigkeit. Es war der Wurm in ihrem Herzen, der jeden Apfel zerfraß. Was Malkah zu Recht ihren Dybbuk nannte. So würde sie leben, bis sie eine alte, alte Frau war, und immer von dem Leben träumen, das sie mit dreizehn gekannt hatte, und sich immer in ein Paradies zurücksehnen, aus dem sie herausgewachsen war, als sei es ein hübscher Kinderlackschuh, halb so groß wie ihr erwachsener Fuß.

      Malkah wollte sie offensichtlich dahaben und versuchte, es ihr schmackhaft zu machen, indem sie so tat, als glaube sie Avrams astronomische Behauptungen über seine Maschine. Vielleicht war Malkah einsamer, als es schien. Shira war aufgefallen, dass sie Probleme mit den Augen hatte. Die alte Frau versuchte, ihr schwindendes Augenlicht zu verheimlichen, aber sie bewegte sich sehr viel rascher im Hellen und sehr viel langsamer im Halbdunkel. Sie sah nicht immer Gegenstände, die Shira von ihrem angestammten Platz entfernt hatte. Das musste bald, aber taktvoll zur Sprache gebracht werden. Avram und Malkah spielten beide immer wieder auf die Gefahr an, aber Tikva machte nicht den Eindruck einer belagerten Stadt. Sie hatte beide im Verdacht, stark zu dramatisieren, um ihr Interesse zu wecken. Unnötiger Wirbel; sie wusste zurzeit sowieso nicht, wohin sie sonst gehen sollte.

      10

Malkah

      War es gut, das zu tun?

      Als Riva noch ganz klein war, hatte sie schon einen unbändigen Willen. Selbst als Säugling schwoll sie vor Zorn, sie schrie sich krank oder sie hielt den Atem an, bis ich vor Sorge außer mir war. Mit zwei gewöhnte sie sich an, in höchster Lautstärke Nein zu sagen. Ich sehe sie immer noch in der Mitte des Hofes stehen und dieses eine Wort sagen, bis die Wände davon widerhallten, und dann verstummte sie und weigerte sich, auch nur einen Ton von sich zu geben. Wie sind wir dazu gekommen, uns schon so früh in einem Wettkampf des Willens zu verkeilen?

      Sie glich einer Katze darin, dass sie geschlossene Türen hasste. Eine abgeschlossene Schublade, ein unzugänglicher Kasten, ein geschütztes Programm, ein vor ihr verstecktes Buch machten sie unersättlich, so wie andere Kinder nach Bonbons oder Pommes Frites verlangen. Der Tipp, dass etwas ihr Verständnis übersteige, brachte sie dazu, sich jeden Wälzer einzuverleiben. Sie liebte es, sich leise heranzuschleichen, während ich mit anderen schwatzte, nur um Geschichten zu belauschen, die ihr nichts bedeuten konnten, über Leute, die sie kaum kannte. Bereits mit zwölf Jahren wühlte sie in der Basis herum, in jedermanns Personalakte, rein und raus, mein kleiner stupsnasiger Maulwurf. Dann schrie ich sie an: »Das Privatleben ist heilig! Du kannst nicht einfach in anderer Leute Geheimnissen herumstöbern.«

      »Das, was wir nicht wissen, macht uns dumm«, sagte sie dann mit trotzig hochgezogenen Schultern. Sie war nicht bereit, sich zu schämen. Wir sollten alle alles wissen.

      Wenn ich an mich selber mit zwanzig denke, sehe ich ein leidenschaftliches, konfuses Geschöpf, das nach Gefühlen grapschte und nach Ideen schnappte, so ungeduldig wie mein eigenes Kind nach

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