Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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Die Struktur des »Differenzgeschäfts« ist nicht auf die Börse beschränkt. Marx weist sie bereits in der einfachen Zirkulation auf: »Die Trennung des Tauschs in Kauf und Verkauf macht es möglich, dass ich bloß kaufe, ohne zu verkaufen (accaparement [wucherischer Aufkauf] von Waren), oder bloß verkaufe, ohne zu kaufen (Akkumulation von Geld). Sie macht die Spekulation möglich.« (42/130) Spekulation zielt immer auf eine für den Spekulanten vorteilhafte Preisdifferenz. So bereits in der vermutlich ältesten schriftlich festgehaltenen Spekulationsgeschichte, der von Thales von Milet, dem Gründer der ionischen Philosophie. Dieser soll »in Voraussicht einer reichen Olivenernte alle Ölpressen gemietet und dadurch ein enormes Vermögen gewonnen« haben (Diogenes Laertios, I.26). Auf Grundlage kapitalistischer Produktion schließlich kann das Handelskapital »wie die plötzlich emporschießenden Paroxysmen der Spekulation in gewissen Lieblingsartikeln zeigen, mit außerordentlicher Schnelligkeit Kapitalmassen aus einer Geschäftsbranche ziehn und sie ebenso plötzlich in eine andre werfen« (25/218).
Was zu Marx’ Zeiten außerordentliche Schnelligkeit war, ist von den elektronischen Geräten, mit denen das Finanzkapital arbeitet, inzwischen in neue Dimensionen katapultiert worden. Blitzartig lässt es sich mit ihrer Hilfe von einem Massengut aufs andere werfen, ohne dass sein Umlauf einen physisch »wirklichen Warenumsatz« ausdrückt. Die Inkubationszeit der Großen Krise des Hightech-Kapitalismus zeigte dies in Gestalt der extremen Preissprünge von Rohstoffen und Nahrungsmitteln (Erdöl, Getreide u.v.a.m.) aufs Doppelte, dann wieder auf einen Bruchteil in historisch kürzester Zeit. Die Differenzen, auf die bei solchen, nicht mit den physischen Stoffen, sondern Ansprüchen auf sie getätigten Geschäften spekuliert wird, sind erwartete Preisdifferenzen. Die Erwartung ist subjektiv, das Resultat des aus ihr folgenden Handelns objektiv. Die Spekulation richtet sich auf mögliche Kursveränderungen. Diese hängen vom Verhältnis von Angebot und Nachfrage ab. Die in Kauf- oder Verkaufsaufträge umgesetzte Erwartung verändert dieses Verhältnis unmittelbar. Die Aktion des spekulierenden Subjekts ›fällt ins Objekt‹. Der Vorgang zeigt das Muster einer sich selbst erfüllenden Prognose. Ist das Handelsvolumen gemessen am handelbaren Wert gering, hält sich der Effekt in den Differenzialgrenzen von etwas, das nur unmerklich größer als Null ist. Doch die Fonds und andere Großakteure des Börsengeschehens, die Milliarden US-Dollar bewegen können, lassen den Preis bereits in der erwarteten Richtung hochschnellen, zumal sie, eifersüchtig belauert von Ihresgleichen, alsbald Gesellschaft bekommen. Wer bei der Hausse nicht sofort und von Anfang an dabei ist, dem zerrinnt mit verrinnender Zeit der Differenzgewinn. Während »auf den Gütermärkten steigende Preise die Nachfrage [dämpfen] und fallende [sie] erhöhen«, gilt auf den Finanzmärkten »der umgekehrte Preismechanismus […], bei steigenden Preisen zu kaufen und bei fallenden zu verkaufen« (Wagenknecht 2008, 92). Wer bei Baisse nicht sofort verkauft – und sei es nur, um womöglich bei weiter gefallenen Kursen wieder einzusteigen –, verliert.
4. Mannlose Spekulation
Die Hochtechnologie in der Hand der Berufsspekulanten ist dabei, diese seit Jahrhunderten wirkenden Mechanismen kurzfristiger Differenzspekulation, also der Spekulation auf Veränderungen in der Zeit gleichsam die Zeit selbst auszutreiben. Dabei werden die menschlichen Händler durch Mikrochips ersetzt oder auf Restfunktionen zurückgedrängt. Zugleich entsteht innerhalb der geschlossenen Welt der vernetzten Rechner die Möglichkeit eines Insidergeschäfts neuen Typs. Diesmal sind es keine menschlichen Eingeweihten, die ihr Wissen zu Geld machen, sondern »räuberische Algorithmen«. So heißen die anonym in den Handelsplattformen agierenden, unstofflichen und gleichwohl materiellen »elektronischen Metamaschinen« (HTK I, 112f), die in den Eingeweiden des menschenlosen Prozesses selbst »auf der Jagd nach Profit sind« (Strobl 2010). Sie sind die Piranhas der sog. »Latenz-Arbitrage«; sie fischen nach Wertdifferenzen, um in den winzigen Zeitintervallen »zwischen dem Eintreffen einer großen Kauforder und ihrer Ausführung«, wo Mikrosekunden zählen, »alles abzugrasen, was an Angebot zum aktuellen Kurs im Markt ist« (ebd.).
Die ›mannlose‹ Spekulation verändert das Erscheinungsbild bestimmter Börsenkrisen. Normalerweise ist sie nicht der Grund des Geschehens, wohl aber seines Modus. Sie potenziert die Ausschläge der Kurse, wie sie auf diesen Ausschlägen wiederum ihre Wellenreiterei praktiziert.54 Die eigentümliche Form, die ihr entspringt, wo der Modus zum Grund wird, ist der »Blitz-Crash«. Angekündigt im »ersten Weltbörsenkrach der Geschichte« (Mandel/Wolf 1988, 30) vom Oktober 1987,55 bei dem »die Kisten das Kommando« übernahmen, lässt der Effekt der seither fortgeschrittenen Prozess-Mikroisierung sich bei der Blitz-Baisse vom 6. Mai 2010 beobachten: Der Dow Jones verlor binnen weniger Minuten fast tausend Punkte. Ein geringfügiger Rückgang hatte quasi in Echtzeit die Verkaufsorder der Spekulationsmaschinen losgetreten. So erklärte sich der Sturz. Dass er zunächst fortdauerte, rührte nun ausgerechnet daher, dass Menschen dem mannlosen Betrieb wieder das Zepter aus der Hand nahmen, indem sie die Maschinen abschalteten. Was retten sollte, verschlimmerte den Schaden. Mangels öffentlicher Regulierung konnten die Betreiber jeder Handelsplattform nach eigenem Gutdünken entscheiden, ob (und wann) sie abschalten wollten. Nun aber schalteten viele von ihnen »ihre Computer während des Kurssturzes ab […,] nachdem andere Programme im großen Stil Verkaufsorders platziert hatten, um von den fallenden Kursen zu profitieren«. Doch damit »stießen die Verkaufsorders nicht mehr auf Kauforders. Ein Tsunami von Verkaufsaufträgen drückte die Kurse vieler Aktien auf surreal niedrige Niveaus, das Papier der weltweit tätigen Beratungsgesellschaft Accenture zum Beispiel fiel von 41 Dollar auf einen Cent. Die Situation beruhigte sich erst wieder, als Händler aus Fleisch und Blut auf den Plan traten und wie in alten Zeiten Käufe und Verkäufe untereinander abwickelten.« (Strobl 2010)
54 Ausgangspunkt und Resultat für die high-frequency traders ist »a ›new normal‹ of permanently heightened volatility« (Story/Bowley 2011).
55 Seine Erscheinungsform und die damit einhergehenden Wahrnehmungsformen habe ich festgehalten im gleichnamigen Exkurs der Neuen Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, 197-200.
Am Börsenplatz Frankfurt/M generierten »Algo-Trader« im Februar 2010 über 40 Milliarden Euro Handelsaufträge, fast die Hälfte des Gesamtumsatzes. Sie »haben ihre Computer so programmiert, dass sie nach bestimmten Mustern Aktien kaufen und verkaufen, sie zwischendurch oft nur Sekunden behalten und am Ende des Tages meist keine einzige Aktie besitzen.« Der Kursmakler entfällt. »Der Computer führt Angebot und Nachfrage zusammen und errechnet daraus einen Kurs. Das passiert innerhalb einer Sekunde etliche Male für eine einzige Aktie.« (Mohr 2010a) Im Februar setzte die Börse 97 Milliarden Euro über das elektronische System Xetra und nur 6 Milliarden auf dem Parkett um. Damit waren die Tage des Parketthandels gezählt. Der Börsenrat beschloss, ihn spätestens 2012 einzustellen. Von der ›Maschinisierung‹ über Xetra versprach man sich eine viel breitere Anlegerschaft aus ganz Europa mit