Aufgeklärtes Heidentum. Andreas Mang
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Ein weiterer Punkt sind die offensichtlich mythologischen Aspekte in der Lebensgeschichte Jesu. Neben den ganzen übernatürlichen Ereignissen wie dem Gehen über Wasser, Verwandlungen von Lebensmitteln und anderen Wundern folgt der Lebenslauf Jesu einem typischen mythologischen Muster. Das fängt schon bei der Geburt in einer Höhle an. Ställe im damaligen Palästina wurden in Höhlen angelegt, und die Geburtskirche Jesu in Bethlehem ist im 2. Jahrhundert über einer errichtet worden. Die Geburt in Höhlen ist nun typisch für Götter, auch Hermes wurde in einer geboren [Ros90], ebenso Mithras, dessen Geburt auch „Felsgeburt“ genannt wird [Klo06], und nicht zuletzt Zeus.
FitzRoy Richard Somerset veröffentlichte unter seinem Adelstitel Lord Raglan eine Auflistung von allgemein verbreiteten Lebensumständen mythologischer Helden [Rag03]. Diese sogenannte „Lord Raglan Skala“ umfaßt 22 Punkte, darunter die Geburt durch eine königliche Jungfrau, die Abkunft als Sohn eines Gottes, den Versuch, ihn direkt nach der Geburt zu töten, und mysteriöse Todesumstände. Erreicht ein Lebenslauf mehr als sechs Punkte auf der Skala, gilt er als mythologisch, der Held als mythologischer Archetyp. Lord Raglan hat sich zwar nicht getraut, in seinem Buch Jesus dahingehend zu analysieren, aber je nach Interpretation mancher Punkte kommt der Jesus der Evangelien auf 15 bis 19 Punkte.
So interessant seine Skala ist, Lord Raglans Buch enthält auch manchen Fehler. So hielt er die Entdeckung Amerikas durch die Wikinger für einen Mythos, da man zur Zeit der Erstveröffentlichung 1936 noch keinen archäologischen Nachweis dafür hatte. Mittlerweile hat man sogar genetische Hinweise im isländischen Erbgut gefunden, die auf einige indianische Vorfahren hindeuten, die von Amerika nach Island gebracht worden sind [Sig10].
Der Versuch des Herodes, Jesus nach der Geburt durch den Mord an allen Neugeborenen zu töten, wird außerbiblisch nirgends erwähnt, und es ist äußerst unwahrscheinlich, daß die herrschenden Römer so etwas einem Vasallenkönig erlaubt und dann obendrein nicht notiert hätten. Diese Episode dient nur dazu, Jesus nach Ägypten fliehen zu lassen, um eine Bestätigung einer alttestamentarischen Prophezeiung über den zukünftigen jüdischen Messias zu konstruieren, nämlich bezogen auf den Ausspruch, „ich rief meinen Sohn aus Ägypten“ (Hosea 11,1).
Meiner Meinung nach ist es nach den oben erläuterten Umständen ziemlich wahrscheinlich, daß auch die Jesusgeschichte einen Mythos und keine historische Tatsache darstellt bzw. die Lebensgeschichte eines historischen Jesus mythologisch bis zur Apotheose1 verklärt worden ist. Dies ist wohlgemerkt nicht abwertend gemeint, Mythen haben meines Erachtens bezogen auf religiöse und ethische Lehren eine herausragend wichtige Bedeutung.
Worum geht es nun bei den Mythen? Sie enthalten poetische Beschreibungen von Naturereignissen, die für den Menschen wichtig sind, philosophische, ethische und moralische Lehren oder religiöse Begründungen von historischen Umständen. Es kommen Menschenbilder und der Umgang der Menschen untereinander oder gegenüber der Natur darin vor. Auch wenn sie rein vom Menschen erfundene Geschichten sind, so spiegeln sie doch kulturelle Hintergründe wieder, die für die Theorie und Praxis der dazugehörenden Religion bedeutend sind.
Ich möchte drei Beispiele dazu anführen und erläutern: den Mythos der Persephone [Gem86], den von Thjalfi und Röskva [Sno91] sowie das Nibelungenlied [Boo03]. Letzteres ist zwar mehr eine mittelalterliche Sage bezogen auf die ritterliche Minne, basiert aber in Teilen auf heidnischen Mythen wie dem Sigurd- bzw. Sigfridlied [Jor01], im Nibelungenlied dann Siegfried genannt, und ist in Bezug auf die deutsche Geschichte interessant zu betrachten.
Persephone ist die Tochter des Zeus und der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, die auch für das Wachstum und Gedeihen des Getreides und anderer Saat zuständig ist. Hades möchte sie ehelichen und stellt Zeus einen Heiratsantrag, dem dieser weder zustimmt noch ihn ablehnt, weil er weiß, daß sie nicht freiwillig in der sonnenlosen Unterwelt würde leben wollen. Hades nimmt das Schweigen dennoch als Zustimmung an und entführt sie in die Unterwelt, wo sie sich ihrem Schicksal fügt. Demeter jedoch ist verzweifelt und unterbindet das Wachstum aller Pflanzen, was wiederum Zeus zum Eingreifen bringt, der eine Einigung erzielt, daß Persephone im Halbjahresrhythmus zwischen der Unterwelt und dem Zusammenleben mit ihrer Mutter wechselt.
Hier geht es ganz offensichtlich weder um einen historischen Tatsachenbericht noch ein niedliches Märchen, hier wird in wunderschöner Form geschildert, wie sich die Jahreszeiten, besonders Sommer und Winter, und das mit ihnen verbundene natürliche Wachstum abwechseln. Ein etwas naiver Gläubiger mag das als Grund ansehen, warum es Sommer und Winter im Sinne einer göttlich gegebenen Naturgesetzlichkeit gibt, aber über eine solche Sichtweise sollten wir heutzutage aufgrund der einfachsten astronomischen Kenntnisse hinaus sein. Und ich denke, daß das auch die damaligen Griechen waren, wenigstens die halbwegs gebildeten.
Die Geschichte von Thjalfi und Röskva kennt man heute vielleicht eher aus dem dänischen Zeichentrickfilm „Walhalla“, der einen Comic von Peter Madsen auf die Leinwand brachte und diesen Mythos in kindgerechter Form erzählt. Auf einer Reise machen die beiden Götter Thor und Loki Halt bei einem Bauern, der zwei Kinder besitzt, einen Sohn namens Thjalfi und eine Tochter namens Röskva. Sie übernachten dort, und Thor schlachtet die Ziegen, die seinen Wagen ziehen, um sie mit Loki und der Bauernfamilie zu verspeisen. Er verbietet allerdings, ihre Knochen anzurühren. Die Kinder hören nicht darauf, brechen einen der Beinknochen auf und essen auch das Knochenmark.
Am nächsten Morgen erweckt Thor die Ziegen wieder zum Leben und stellt fest, daß eine davon aufgrund des verletzten Knochens lahmt. Das macht ihn recht wütend, wobei man anmerken muß, daß die Ziegen in der Mythologie für den Ablauf von Gewittern mitverantwortlich sind, ihr Getrappel produziert den Donner, so daß das Fehlverhalten der Kinder sozusagen globale Konsequenzen haben kann. Interessant ist jetzt seine Reaktion als Strafe für dieses Fehlverhalten. Weder verflucht oder züchtigt er sie oder ihre nachfolgenden Generationen, noch vergibt er ihnen einfach, wie es beides so mancher andere Gott tun würde. Er nimmt sie stattdessen in seine Dienste auf und läßt sie den von ihnen angerichteten Schaden abarbeiten.
Ich finde, hier wird eine wichtige ethisch-moralische Lehre verbreitet, nämlich daß man Fehlverhalten weder übermäßig noch überhaupt nicht bestrafen sollte, sondern den oder die Verursacher zwingen sollte, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen, ggf. mit zusätzlicher Strafe, die der Schwere der Tat angepaßt ist, damit sich Verbrechen nicht mit etwas Glück als kostenfreie und möglicherweise positive Möglichkeiten darstellen. Der Umgang Thors mit Zuwiderhandlungen gegen seine wegen der naturbezogenen Rahmenbedingungen wichtige aufgestellte Forderung zeigt, wie sich eine Gesellschaft in Bezug auf Verbrechen verhalten sollte. Das mag jetzt weit hergeholt klingen, aber mit Überlegungen dieser Art kann man meiner Meinung nach so manches Sinnvolle aus Mythen herausholen, ohne daß sie reale historische Ereignisse wiedergeben.
Das Nibelungenlied beruht in Teilen auf geschichtlichen Vorlagen wie dem Hunnensturm in der Völkerwanderungszeit. Man vermutete auch, daß der Drachentöter Siegfried den Cherusker Arminius darstellen soll, der Drache den „Heerwurm“ der drei Legionen des Varus [Höf61]. Auf die Zusammenfassung des gesamten Inhalts will ich hier verzichten, die Geschichte sollte einigermaßen bekannt sein. Stattdessen soll auf die charakterlichen Archetypen der Protagonisten sowie die sogenannte „Nibelungentreue“ eingegangen werden. Beides paßt zu der zuvor schon ausgebreiteten Weise der Mytheninterpretation, und letztere hatte