Aufgeklärtes Heidentum. Andreas Mang
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Wie man auch an diversen Verfilmungen der Sage schön sehen kann, gilt Siegfried als der Held, der Gute, Hagen von Tronje als der finstere Böse und König Gunther als der intellektuell wie militärisch Überforderte, der auf die Hilfe seiner Helden angewiesen ist, um seine hehren Ziele zu erreichen. Siegfrieds Heldenrolle in Bezug auf die Drachentötung aus älteren Quellen ist nachvollziehbar, im späteren Verlauf des Nibelungenlieds trifft sie meiner Meinung nach nicht mehr zu. Hagen als der übriggebliebene Heide ist der Böse von Natur aus, ebenso werden seine Handlungen als Verbrechen gedeutet. Der herrschende König ist zwar leider etwas unfähig, aber ihm gehorchen die Untergebenen, wie es sich gehört, und helfen ihm, wo sie können und müssen. Soweit die gängige Deutung.
Ich deute die Charaktere ganz anders. Hagen ist der tragische Held, der Gute, Gunther der Böse, der Tyrann, der nur eigennützig nach Macht und Wohlstand strebt, und Siegfried der intellektuell Unbedarfte, der vom König schamlos ausgenutzt wird, um seine Ziele zu erreichen.
Entscheidend für diese Deutung sind die Handlungsstränge um Brünhild. Diese hatte erwartet, von Siegfried umworben zu werden, was ein Verliebtsein ihrerseits ausdrücken mag, aber dann wurde von Gunther um ihre Hand angehalten. Um als tauglicher Ehemann zu gelten, mußte der Bewerber sie in einem Kampfspiel besiegen, wozu Gunther nicht fähig war. Zum Sieg verhalf ihm Siegfried unerkannt mittels seiner Tarnkappe. Dies war gegenüber Brünhild schon nicht gerade gentlemanlike. Sie vermutet richtigerweise einen Betrug und wiederholt das Kampfspiel quasi in der Hochzeitsnacht. Gunther hätte hier zugeben müssen, ein Betrüger zu sein, doch Siegfried hilft ihm wieder mit der Tarnkappe, nach Ansicht mancher Interpreten vergewaltigen sie Brünhild sogar. Dieses Verbrechen will Hagen sühnen, er ist aber aufgrund der bis auf eine Stelle am Körper gegebenen Unverwundbarkeit Siegfrieds (eine deutliche Parallele zu Achilles aus der Illias) nicht in der Lage, ihn mittels üblicher körperlicher Gewalt zu bekämpfen. Der angeblich hinterlistige Mord mit intriganten Erkundigungen zuvor ist daher eher eine Kriegslist gegen einen ansonsten unbesiegbaren Gegner zur Wiedergutmachung eines Verbrechens als ein Verbrechen selbst.
Im Gegensatz zu Siegfried handelt Hagen hier im damaligen kulturellen Kontext durchaus ehrenhaft, ebenso in anderen Handlungssträngen. Er begeht in der Sage nur einen entscheidenden Fehler: Er hält einem falschen, nämlich tyrannischen Herrscher die Treue. Da steht er nicht allein, die übrigen Burgunder tun es ihm gleich. Aber er ist der Protagonist, der den Fehler versinnbildlicht, an dem am Ende das gesamte Volk zugrunde geht.
Diese Nibelungentreue der Burgunder gegenüber ihrem König ist also keine Tugend, sondern eine Warnung vor den möglichen negativen Konsequenzen, wenn die geschworene Treue nicht gegenseitig erbracht wird, sondern nur von unten nach oben oder von einer Seite zur anderen. Im christlichen Kontext wird die unbedingte Treue der Untergebenen nach oben, die Gnade der Oberen nach unten als richtig angesehen. Dies entspricht der mythologischen Hierarchie mit einem obersten Gott. Im Heidentum, speziell im germanischen, ist Treue eine bilaterale Angelegenheit2. Sie muß erwidert werden, auch und gerade vom Herrscher, Heer- oder Anführer, was Gunther nirgends einhält. Wird die Treue von einer Seite gebrochen, ist die andere nicht mehr verpflichtet, sich daran zu halten.
In der deutschen Geschichte gibt es einige Beispiele, wie der falsche Umgang mit der Treue in Katastrophen endete. Wann immer deutsche Herrscher im 19. und 20. Jahrhundert die Nibelungentreue als vom Volke zu leistende Tugend forderten, führten sie das Land in einen Weltkrieg und dann in den Untergang. Für die Angehörigen der militärischen Widerstandsbewegung im Dritten Reich war der Treueschwur auf Adolf Hitler persönlich lange ein ernstzunehmendes Hindernis, aktiv gegen den Herrscher vorzugehen. Stauffenberg zum Beispiel fühlte sich lange an diesen Eid gebunden, bevor er als Attentäter auftreten konnte [Hof07].
Bei einem anderen – wirklich heidnischen – Verständnis der Treue wäre dieser Bruch weit früher gekommen (siehe auch Seite 151f). Ein Beispiel dazu liefert der als historisches Vorbild für Siegfried vermutete Arminius. Dieser war von mehreren Stämmen als Heerführer gegen die Römer ausgewählt worden, nach seinem Sieg war diese Rolle abgelaufen. Er versuchte aber, sich als Alleinherrscher zu etablieren – vielleicht auch mit militärischer Gewalt, das wissen wir nicht –, woraufhin er von seiner eigenen Verwandtschaft beseitigt wurde. Nun mag ein solcher vorbeugender Tyrannenmord nach heutigem Rechtsverständnis nicht korrekt sein, beim tatsächlichen Tyrannenmord ist man da auch heute noch aufgeschlossener. Kaum einer verurteilt das Attentat Stauffenbergs als übles Verbrechen, und in germanischer Zeit ohne Rechtsstaat oder Staat überhaupt gab es wohl kaum andere Optionen, gegen einen militärisch hochgerüsteten potentiellen Herrscher vorzugehen, den man als halbwegs freier Mensch nicht wollte.
Eine besondere Art von Mythen sind Schöpfungsgeschichten. Auch hier ist es wenig ratsam, sie als historische beziehungsweise naturwissenschaftliche Berichte zu sehen. Es gibt aber zwischen verschiedenen Schöpfungsmythen aus verschiedenen Religionen einen gewichtigen Unterschied: Es gibt solche, in denen ein ewiger Gott den Kosmos erschafft, wie im Christentum, und solche, in denen der Kosmos von allein entsteht und die verehrten Götter erst später gezeugt werden. Letzteres ist zum Beispiel in den germanischen und griechischen Mythen der Fall.
Ein Mythos von der Entstehung oder dem Aufbau des Universums hängt stark mit der Kosmologie beziehungsweise kosmologischen Grundannahmen zusammen, sei es mit der Annahme einer Schöpfung durch höhere Wesen, eines spontanen Auftretens oder ewiger Existenz, auch in Form zyklischer Epochen. Das ist zwar noch Philosophie und keine Naturwissenschaft, aber nahe dran, so daß man Vergleiche zu naturwissenschaftlich ermittelten Kosmologien ziehen kann.
Im germanischen Mythos gibt es zunächst nur das Ginnungagap, die „gähnende Leere“. Aus dem Nichts erscheinen zwei Welten, die des Feuers (Muspelheim) und die des Eises (Niflheim). Das Feuer läßt das Eis schmelzen, es dringt in die Leere ein und bildet den späteren Kosmos in der Urform des Riesen Ymir [Jor01].
Im griechischen Mythos ist das sehr ähnlich formuliert. Am Anfang gibt es das Chaos, einen völlig ungeordneten Zustand. Daraus entsteht der Kosmos in Form titanischer Urgötter, unter denen Gaia (auf Deutsch auch „Gäa“), die Erdmutter, die wichtigste ist [Hes99].
In beiden Fällen treten die Götter erst nach einigen wenigen Generationen andersartiger höherer Wesen, den Riesen oder Titanen, auf, von denen sie abstammen. Die verehrten Götter sind also keine Schöpfer des Universums, weshalb ich diese Geschichten auch lieber „Weltwerdungsmythen“ statt „Schöpfungsmythen“ nenne. Hierbei ist noch zu beachten, daß die Annahme der Existenz weiterer Welten, wie eines Jenseits oder der nordischen Neun Welten, sogar ganzer Universen, keine Ausnahme bildet. Die über die Welt der Menschen und das von uns bewohnte Universum hinausgehenden Welten zählen ebenso zum gesamten Kosmos wie die unsere.
Gegenüber dem Konzept von einem oder mehreren ewigen Göttern, die den Kosmos aus dem Nichts erschaffen, haben die Weltwerdungsmythen meines Erachtens nach zwei Vorteile und machen darüber hinaus einen wesentlichen Unterschied für die möglichen Vorstellungen der involvierten Götter aus.
Der erste Vorteil ist die Übereinstimmung der Grundaussage, daß der Kosmos von selbst entstand, mit dem aktuellen naturwissenschaftlichen Wissensstand. Unabhängig davon, daß man einen Mythos nicht im Detail naturwissenschaftlich analysieren sollte, ist ein mit der modernen Kosmologie übereinstimmendes Gesamtmotiv nicht abwegig. Die Entstehung des Kosmos „aus dem Nichts“ ist die allgemein akzeptierte physikalische Theorie [Gut99], einen dazu passenden Mythos halte ich für besser als einen dazu unpassenden.
Im nordisch-germanischen Weltwerdungsmythos kann man das Zusammenspiel von Feuer, Eis und leerem Raum als poetisches Bild für das frühe expandierende Universum nehmen, in dem Strahlung und Materie durch die allgegenwärtige Abkühlung, die aus der Expansion folgte, voneinander getrennt wurden und daraufhin die heutige erfahrbare Struktur des Universums bildeten, inklusive der Galaxienhaufen und Hintergrundstrahlung [Wei77].