Streifzüge durch meine Heimat. Horst Bosetzky

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Streifzüge durch meine Heimat - Horst Bosetzky

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kein überzeugter Nationalsozialist, weshalb er sich auch gut mit meinem Vater verstand, der als Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold ausgewiesener Gegner des NS-Regimes war. Ich war damals nicht einmal sieben Jahre alt, und Martin Blumenthals Tochter Edith wurde meine erste Freundin, mit der ich sogar in einem Bett schlafen durfte.

      Gleich hinter der Scheune der Blumenthals lag das Schloss beziehungsweise Herrenhaus der Familie Gans zu Putlitz, das auch heute noch dort zu finden ist. Edith geriet immer ins Schwärmen, wenn sie von ihren Besuchen dort sprach. Mit einer der adligen Töchter ging sie in dieselbe Klasse – leider nicht mit mir, denn ich war an die vier Jahre jünger als sie. Die Dorfschule, heute die Grundschule Juri Gagarin, war wegen uns vielen Flüchtlingskindern aus Berlin und Hamburg so überfüllt, dass eine »Willkommensklasse« im zweiten Gasthaus des Orts eingerichtet werden musste.

      Das einst so stattliche Haus von Martin Blumenthal mit viel Schinkel an der Fassade verfällt heute zunehmend, dafür hat die Riesengemeinde Groß Pankow nun ein ansehnliches Rathaus bekommen.

      Im Mai 2016 war ich wieder einmal vor Ort, kutschiert wurde ich von meinem Freund Volker, einem gebürtigen Brandenburger. Zuerst suchten wir nach dem Herrenhaus. Sein Wappen fasziniert mich, seitdem ich es zum ersten Mal sah. Auf ihm ist eine auffliegende goldbewehrte silberne Gans vor rotem Hintergrund abgebildet. Ebenso in den Bann gezogen hat mich als Junge der komische Name des Schlossherrn: Waldemar Gans Edler Herr zu Putlitz. Der ließ mich nicht mehr los, und gut sechzig Jahre später habe ich Gustav Gans (1821–1890) in einem Kriminalroman der Reihe Es geschah in Preußen auftreten lassen. Wiedergegeben habe ich die Szene, die in den Erinnerungen von Wolfgang Gans Edler Herr zu Putlitz, erschienen unter dem Titel Unterwegs nach Deutschland, wie folgt beschrieben wird:

       Von ihm wurde seit Großvaters Zeiten bei uns in Laaske immer als haarsträubender Skandal die Geschichte erzählt, wie während des regnerischen Sommers von 1852 in Retzin die Ernte nicht eingefahren werden konnte, weil Onkel Gustav die Scheune dazu benutzte, um darin eine heute vergessene Oper »Rübezahl« seines Freundes, des Komponisten Friedrich von Flotow, zum ersten Male aufzuführen.

      Ja, Gustav Gans, Gutsbesitzer, Schriftsteller, Theaterintendant und als Politiker sogar Mitglied des Preußischen Herrenhauses, befreundet mit allen Dichtern seiner Zeit von Emanuel Geibel über Gustav Freytag bis zu Franz Grillparzer, war eine herausragende Persönlichkeit.

      Angemerkt werden muss, dass Retzin heute ebenso zu Groß Pankow gehört wie die Gemarkungen Kuhsdorf, Kuhbier, Horst und Wolfshagen, während Laaske der Stadt Putlitz zugerechnet wird.

      Das Rittergut Groß Pankow war seit Urzeiten im Besitz der Familie Gans zu Putlitz. Waldemar Gans Edler Herr zu Putlitz ist am 2. Mai 1945 beim Einmarsch der Roten Armee ums Leben gekommen, während ich nur eine posttraumatische Belastungsstörung erlitt, als meine Mutter zwei Meter neben mir vergewaltigt wurde.

      In Groß Pankow ist Elisabeth Gans Edle Herrin zu Putlitz aufgewachsen, die Mutter des deutschen Mediziners, Kunstsammlers und Genealogen Bernhard von Barsewisch, der am 18. April 1935 geboren wurde. Unmittelbar nach Kriegsende flüchtete die Familie nach Westdeutschland. Von Barsewisch studierte zunächst Biologie, später Humanmedizin an den Universitäten in Hamburg und West-Berlin. 1960 legte er das medizinische Staatsexamen ab, fokussierte sich dann auf die Augenheilkunde, um 1978 außerplanmäßiger Professor in München zu werden. Nach der Wiedervereinigung zog es ihn zurück in seine alte Heimat. 1991 kaufte er das Gutshaus Groß Pankow, um darin eine hochangesehene Augenklinik unterzubringen.

      Nebenbei: Auch Edith Blumenthal hat eine interessante Biografie. Sie heiratete einen der Lehrer der oben erwähnten Dorfschule, Herbert Szuks, der später zu einem der führenden Meeresbiologen der DDR wurde. Auf deren Trawlern reiste er um die halbe Welt, um die gefangenen Fische auf Parasiten zu untersuchen. Edith und Herbert haben in Güstrow gewohnt, aber Edith ist nach der friedlichen Revolution noch oft nach Groß Pankow gefahren, um eine Entschädigung für die Felder ihres Vaters zu fordern, die die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft vereinnahmt hatte.

      An dieser Stelle muss ich auch noch einmal auf ihren Vater, Martin Blumenthal, zu sprechen kommen, der ein solch typischer Märker war, dass er eigentlich auf einer Briefmarke hätte verewigt werden müssen. Martin Blumenthal war für die Unterbringung der aus den deutschen Ostgebieten eintreffenden Flüchtlinge zuständig. Und als wir ihn einmal verzweifelt beten sahen und uns nach dem Grund dafür erkundigten, antwortete er: »Heute kommt Herr Kackstein, um alles zu kontrollieren.« Ich konnte damals nicht fassen, dass jemand tatsächlich so heißen sollte. Erwähne ich den Namen heute, unterstellen mir meine Gesprächspartner meist, er sei meiner Fantasie entsprungen, aber einen bekannten Nationalsozialisten namens Richard Kackstein hat es wirklich gegeben. Er war Bauer im nahen Kuhbier, trat schon 1920 der NSDAP bei, wurde SA-Mann und Sturmbannführer und saß als Abgeordneter seiner Partei im Preußischen Landtag und im nationalsozialistischen Reichstag. Im Frühjahr 1933 übernahm er außerdem im Kreis Ostprignitz Ämter als Kreisbauernführer und als Kreisleiter.

      Zurück zu Groß Pankow: In Groß Pankow kann man hervorragend baden gehen. Die beiden wichtigsten Flüsse, die die Prignitz zwischen Pritzwalk und Perleberg durchziehen, sind die rund 29 Kilometer lange Dömnitz und die bereits oben erwähnte Stepenitz. Dieser Nebenfluss der Elbe entspringt auf einem Höhenzug nahe Meyenburg, fließt über 84 Kilometer reizvoll durchs Flachland und zählt zu den saubersten Wasserläufen Deutschlands. Man kann viele weitere Details über die Stepenitz nachlesen, nur nicht, dass ich im Juli 1946 als absoluter Nichtschwimmer um ein Haar in ihr ertrunken wäre – wie auch kurz zuvor im Dorfteich von Groß Pankow. Beide Male hat mich Edith gerettet.

      Den Dorfteich konnten wir bei unserem Besuch im Jahr 2006 nicht mehr finden. Ich vermute, dass man ihn meinetwegen zugeschüttet hat. Nichtschwimmer bin ich in gewisser Weise mein Leben lang geblieben. Ich habe zwar aus meiner Bremer Zeit den Frei- und Fahrtentrinker, aber ich habe niemals eine Urkunde für den Frei- und Fahrtenschwimmer erlangt, nicht einmal das Seepferdchen habe ich.

      Es sei noch hinzugefügt, dass man nach Groß Pankow am besten mit dem Auto über die B189 oder per Bahn mit dem Prignitz-Express, der Regionalexpresslinie RE6, gelangt. Auf dem Pankower Bahnhof trieb ich mich in den Jahren 1945 bis 1947 in jeder freien Minute herum, um die ankommenden Züge zu erwarten, den abfahrenden hinterherzuwinken und dem Stationsvorsteher bei der Arbeit im Stellwerk zuzuschauen. Das hat mich für mein Leben geprägt und zum Eisenbahnnarren werden lassen. Gern haben wir Kinder auch Markstücke auf die Schienen gelegt und gewartet, bis ein Zug sie platt gefahren hatte.

      Nach Lindenberg reisten wir 2006 über Kyritz. Immer wieder wurden wir auf der Bundesstraße von zuckelnden Treckern ausgebremst, und immer wieder verfuhren wir uns auf der Suche nach dem optimalen Umweg. Nebel lag über der weiten Landschaft, und es nieselte leicht. Es war Ende Mai, doch das Wetter war herbstlich. Erst als Volker Lindenberg in sein Navigationsgerät eingab, fanden wir den richtigen Weg. Die grüne Landschaft wurde welliger. Menschenleer war es in diesem verzauberten Land.

      Mit Lindenberg verbinde ich die Schmalspurbahn. Noch interessanter als die eben erwähnte normalspurige Hauptbahn war für mich als Junge die Schmalspurbahn zwischen Pritzwalk und Vettin. Die fuhr auch am Groß Pankower Nachbarort Kuhsdorf vorbei. Dort hielten die männlichen Jugendlichen beider Dörfer und wir evakuierte Jungen aus den bombardierten Großstädten oft einen nicht ungefährlichen Wettbewerb ab: Wer kann bei Annäherung eines Zugs länger ausgestreckt auf dem Gleis liegen, möglichst noch wie bei Karl May mit einem Ohr auf der Schiene? Tote gab es keine, aber tobende Eltern und Lehrer.

      Von den vielen Schmalspurbahnen in der Prignitz ist bis heute nur noch der »Pollo« erhalten geblieben, die als Museumsbahn betriebene Schmalspurbahn zwischen Mesendorf und Lindenberg mit Halt in Brünkendorf und Vettin.

      Als wir Lindenberg 2016 erreichten, konnten wir keine Dampflok bestaunen, denn es war Donnerstag, und die Museumsbahn verkehrt nur am Wochenende. So blieb uns nur der Besuch

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