Achtsamkeit, Meditation & Psychotherapie. Chogyam Trungpa
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Die Ausbildung zum Therapeuten
In der Ausbildung zum Therapeuten sollten die theoretische und die praktische Arbeit im richtigen Verhältnis stehen. Wir kombinieren diese beiden Elemente in unserem Psychologie-Studiengang an der Naropa-Universität: Man übt sich ein wenig in Meditation, dann widmet man sich dem Studium, lässt sich dann tiefer auf die Meditation ein, studiert dann intensiver und so weiter. Diese Vorgehensweise hat einen ganz interessanten Effekt: Man findet zunehmend Gefallen an dem, was man macht. Das Erleben des eigenen Geistes macht einem Appetit auf weiteres Studieren. Und das Studium steigert das Interesse an der Beobachtung der eigenen geistigen Prozesse durch Meditation.
Dazu kommt, dass das Studium einen anderen Charakter annimmt, wenn es mit der Meditationspraxis kombiniert wird. Wenn die direkte Erfahrung fehlt, verkommt das Studieren zu einem bloßen Auswendiglernen von Fachausdrücken und Definitionen, von deren Stichhaltigkeit man sich zu überzeugen versucht. Wenn es aber mit meditativer Disziplin kombiniert wird, wird das Studium viel lebendiger und realistischer. Es schafft Klarheit darüber, wie der Geist arbeitet und wie dieses Wissen ausgedrückt werden kann. Auf diese Weise befruchten sich Studium und Praxis gegenseitig enorm, und beide werden realer und befriedigender. Es ist wie bei einem Sandwich – erst das Brot macht, dass die Wurst einem schmeckt.
Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die praktische und die theoretische Seite der Ausbildung zueinander stehen sollten. Wie viel Zeit sollte den beiden jeweils gewidmet werden? Generell würde ich sagen, ungefähr gleich viel. Aber gleichzeitig ist zum Beispiel die Zahl der Stunden, die man in die Praxis steckt, nicht so wichtig wie die Einstellung, mit der man sie betreibt. Wenn der Lernende voll bei der Sache ist und seine Praxis genügend ernst nimmt, dann hat seine Meditation den richtigen Stellenwert und durchdringt sein Studium und sein Alltagsleben.
All das soll nicht heißen, dass es in der westlichen Psychologie keine praktische Schulung gibt. Sie ist nur, aus buddhistischer Sicht, stark unterentwickelt. Und wenn sie stattfindet, dann, so scheint es, fast ausschließlich in der interpersonellen Situation, in der man miteinander redet, etwa bei der klassischen psychoanalytischen Ausbildung. Westliche Psychologen haben mich gefragt, ob die direkte Erfahrung der Meditation wirklich notwendig ist. Sie wollten wissen, ob die interpersonelle Ausbildung‘ nicht genügt. Darauf würde ich antworten, dass die interpersonelle Ausbildung allein zu kurz greift. Zunächst ist es notwendig, den eigenen Geist zu studieren und zu erleben. Dann kann man den Geist in der interpersonellen Situation präzise studieren und erleben.
Das kann man auch daran sehen, wie die buddhistischen Abhidharma-Lehren aufgebaut sind. Zunächst wird erforscht, wie der Geist an sich sich entwickelt und wie er funktioniert. Das findet seinen Niederschlag in der ersten Hälfte des Abhidharma. Die zweite Hälfte beschäftigt sich damit, wie dieser Geist auf Dinge außerhalb seiner selbst reagiert. Das ist eine Parallele zur Entwicklung eines Kindes. Am Anfang ist es vor allem mit sich selbst beschäftigt. Später dann, wenn es heranwächst, wird seine Welt immer größer.
Um die interpersonelle Situation richtig zu verstehen, muss man sich zunächst einmal selber kennen. Kennt man einmal den Stil der eigenen geistigen Dynamik, so kann man anfangen zu erkennen, wie dieser Stil im Umgang mit anderen funktioniert. Auf der Basis der Selbsterkenntnis entsteht das interpersonelle Wissen sogar ganz natürlich. Man entdeckt, dass jemand sich geistig entwickelt hat. Dann kann man erleben, wie die beiden Bewusstseine miteinander interagieren. Das führt zu der Entdeckung, dass es einen „Geist außen“ und einen „Geist innen“ gar nicht gibt. „Geist“ ist also eigentlich die Begegnung zweier Bewusstseine, und das ist in gewissem Sinne ein und derselbe Geist.
Je mehr man deshalb über seinen eigenen Geist lernt, desto mehr lernt man über den Geist anderer Menschen. Man entwickelt Wertschätzung für andere Welten, die Lebenssituation von anderen. Man lernt, seinen Horizont zu erweitern über den Tellerrand der eigenen unmittelbaren Situation hinaus, spontan, und damit erweitert sich das eigene Bewusstsein enorm.
Und das schlägt sich in Ihrer Arbeit mit anderen nieder. Es lässt Sie geschickter handeln und gibt Ihnen auch mehr Wärme und Mitgefühl, so dass Sie entgegenkommender sind im Umgang mit anderen.
Ausgangspunkt Gesundheit
Buddhistische Psychologie beruht auf der Idee, dass menschliche Wesen grundlegend gut sind. Ihre ursprünglichen Qualitäten sind positive: Offenheit, Intelligenz und Wärme. Diese Auffassung findet natürlich ihren philosophischen und psychologischen Niederschlag in Begriffen wie „Bodhichitta“ („erwachter Geist“) und „Tathagatagarbha“ („Geburtsort der Erleuchteten“). Aber diese Idee ist letztendlich in der Erfahrung verankert – der Erfahrung, dass man selbst und auch die anderen gut und wertvoll sind. Diese Auffassung ist absolut grundlegend und liefert die eigentliche Inspiration für die Praxis und die Psychologie des Buddhismus.
Da ich einer Tradition entstamme, die das Gute im Menschen betont, war ich ziemlich erschüttert, als ich im Westen dem Glauben an die Erbsünde begegnete. Als ich die Universität in Oxford besuchte, studierte ich mit Interesse philosophische und religiöse Traditionen des Westens und stellte fest, dass die Vorstellung von der Erbsünde ziemlich weit verbreitet war. Eines meiner ersten Erlebnisse in England war ein Seminar mit Erzbischof Anthony Blum. Thema des Seminars war der Begriff Gnade, und wir sprachen auch über die Erbsünde. Die buddhistische Tradition hält solch eine Vorstellung für völlig unnötig, und ich gab dieser Auffassung Ausdruck. Ich war ziemlich überrascht, wie wütend die westlichen Teilnehmer daraufhin wurden. Sogar die Orthodoxen, die die Erbsünde vielleicht nicht so betonen wie die westlichen Traditionen, hielten an ihr als einem Grundstein ihrer Theologie fest.
Bezogen auf unsere jetzige Diskussion heißt das, dass die Vorstellung von der Erbsünde anscheinend nicht nur religiöse Ideen des Westens durchdringt; es scheint, dass sie eigentlich das gesamte westliche Denken durchzieht, vor allem das psychologische Denken. Ob Patienten, Theoretiker oder Therapeuten, irgendwie lässt allen der Gedanke keine Ruhe, dass irgendwo am Anfang ein Fehler passiert ist, der später Leiden verursacht – eine Art Strafe für diesen Fehler. Man entdeckt, dass ein Gefühl des Schuldig- oder Verletztseins ziemlich weit verbreitet ist. Ob diese Menschen tatsächlich an die Erbsünde – oder überhaupt an Gott – glauben oder nicht, sie haben irgendwie das Gefühl, dass sie in der Vergangenheit etwas falsch gemacht haben und jetzt dafür bestraft werden.
Es hat den Anschein, dass dieses Gefühl einer grundlegenden Schuld von Generation zu Generation weitergegeben worden ist und viele Aspekte des Lebens im Westen durchdringt. Zum Beispiel denken Lehrer oft, dass ein Kind nicht richtig lernt und sich als Folge davon nicht richtig entwickelt, wenn es sich nicht schuldig fühlt. Deshalb haben viele Lehrer das Gefühl, sie müssten das Kind antreiben, und Schuldgefühle scheinen dabei eine Hauptrolle zu spielen. Das passiert sogar schon, wenn es ums Lesen und Schreiben geht. Der Lehrer sucht nach Fehlern: „Schau, du hast einen Fehler gemacht. Das musst du verbessern!“ Vom Standpunkt des Kindes aus hat Lernen dann damit zu tun, keine Fehler zu machen, zu beweisen, dass man eigentlich nicht schlecht ist. Ganz anders ist es, wenn man positiv auf das Kind zugeht: „Schau, wie viel du schon dazugelernt hast, und dadurch kommen wir noch weiter.“ In diesem Fall wird das Lernen zum Ausdruck von Gesundheit und angeborener Intelligenz.
Das Problem mit der Vorstellung von einer Erbsünde oder einem Grundfehler liegt darin, dass sie im Endeffekt die Menschen blockiert. Natürlich ist es irgendwann notwendig, die eigenen Unzulänglichkeiten zu erkennen. Aber wenn man damit zu weit geht, tötet man jede Inspiration ab und verliert womöglich jede Perspektive. So betrachtet, hilft sie also überhaupt nicht weiter, und eigentlich ist sie überflüssig. Wie gesagt haben wir im Buddhismus keine vergleichbare Vorstellung von Sünde und Schuld. Natürlich existiert der Gedanke, dass man Fehler vermeiden sollte. Aber es gibt nichts, was mit der bedrückenden Schwere und Unausweichlichkeit