Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe Klassiker bei Null Papier

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sie in einen dunklen Gang mit fort­riss und dort auf den Kni­en lie­gend durch schreck­li­ches Ge­heul und Ge­schrei die er­zürn­te Gott­heit zu ver­söh­nen glaub­te; in­des­sen der Va­ter, ganz al­lein ge­fasst, die Fens­ter­flü­gel auf­riss und aus­hob, wo­durch er zwar man­che Schei­ben ret­te­te, aber auch dem auf den Ha­gel fol­gen­den Re­gen­guss einen de­sto off­nern Weg be­rei­te­te, so­dass man sich, nach end­li­cher Er­ho­lung, auf den Vor­sä­len und Trep­pen von flu­ten­dem und rin­nen­dem Was­ser um­ge­ben sah.

      Sol­che Vor­fäl­le, wie stö­rend sie auch im gan­zen wa­ren, un­ter­bra­chen doch nur we­nig den Gang und die Fol­ge des Un­ter­richts, den der Va­ter selbst uns Kin­dern zu ge­ben sich ein­mal vor­ge­nom­men. Er hat­te sei­ne Ju­gend auf dem Ko­bur­ger Gym­na­si­um zu­ge­bracht, wel­ches un­ter den deut­schen Lehr­an­stal­ten eine der ers­ten Stel­len ein­nahm. Er hat­te da­selbst einen gu­ten Grund in den Spra­chen, und was man sonst zu ei­ner ge­lehr­ten Er­zie­hung rech­ne­te, ge­legt, nach­her in Leip­zig sich der Rechts­wis­sen­schaft be­flis­sen und zu­letzt in Gie­ßen pro­mo­viert. Sei­ne mit Ernst und Fleiß ver­fass­te Dis­ser­ta­ti­on: Elec­ta de adi­tio­ne here­di­ta­tis, wird noch von den Rechts­leh­rern mit Lob an­ge­führt.

      Es ist ein from­mer Wunsch al­ler Vä­ter, das, was ih­nen selbst ab­ge­gan­gen, an den Söh­nen rea­li­siert zu se­hen, so un­ge­fähr, als wenn man zum zwei­ten Mal leb­te und die Er­fah­run­gen des ers­ten Le­bens­lau­fes nun erst recht nut­zen woll­te. Im Ge­fühl sei­ner Kennt­nis­se, in Ge­wiss­heit ei­ner treu­en Aus­dau­er und im Miss­trau­en ge­gen die da­ma­li­gen Leh­rer, nahm der Va­ter sich vor, sei­ne Kin­der selbst zu un­ter­rich­ten und nur so viel, als es nö­tig schi­en, ein­zel­ne Stun­den durch ei­gent­li­che Lehr­meis­ter zu be­set­zen. Ein päd­ago­gi­scher Di­let­tan­tis­mus fing sich über­haupt schon zu zei­gen an. Die Pe­dan­te­rie und Trüb­sin­nig­keit der an öf­fent­li­chen Schu­len an­ge­stell­ten Leh­rer moch­te wohl die ers­te Ver­an­las­sung dazu ge­ben. Man such­te nach et­was Bes­se­rem und ver­gaß, wie man­gel­haft al­ler Un­ter­richt sein muss, der nicht durch Leu­te vom Me­tier er­teilt wird.

      Mei­nem Va­ter war sein eig­ner Le­bens­gang bis da­hin ziem­lich nach Wunsch ge­lun­gen; ich soll­te den­sel­ben Weg ge­hen, aber be­que­mer und wei­ter. Er schätz­te mei­ne an­ge­bor­nen Ga­ben umso mehr, als sie ihm man­gel­ten: denn er hat­te al­les nur durch un­säg­li­chen Fleiß, An­halt­sam­keit und Wie­der­ho­lung er­wor­ben. Er ver­si­cher­te mir öf­ters, frü­her und spä­ter, im Ernst und Scherz, dass er mit mei­nen An­la­gen sich ganz an­ders wür­de be­nom­men und nicht so lie­der­lich da­mit wür­de ge­wirt­schaf­tet ha­ben.

      Durch schnel­les Er­grei­fen, Ver­ar­bei­ten und Fest­hal­ten ent­wuchs ich sehr bald dem Un­ter­richt, den mir mein Va­ter und die üb­ri­gen Lehr­meis­ter ge­ben konn­ten, ohne dass ich doch in ir­gen­det­was be­grün­det ge­we­sen wäre. Die Gram­ma­tik miss­fiel mir, weil ich sie nur als ein will­kür­li­ches Ge­setz an­sah; die Re­geln schie­nen mir lä­cher­lich, weil sie durch so vie­le Aus­nah­men auf­ge­ho­ben wur­den, die ich alle wie­der be­son­ders ler­nen soll­te. Und wäre nicht der ge­reim­te an­ge­hen­de La­tei­ner ge­we­sen, so hät­te es schlimm mit mir aus­ge­se­hen; doch die­sen trom­mel­te und sang ich mir gern vor. So hat­ten wir auch eine Geo­gra­fie in sol­chen Ge­dächt­nis­ver­sen, wo uns die ab­ge­schmack­tes­ten Rei­me das zu Be­hal­ten­de am bes­ten ein­präg­ten, z. B.:

       Ober-Ys­sel; viel Mo­rast

       Macht das gute Land ver­hasst.

      Die Sprach­for­men und -wen­dun­gen fass­te ich leicht; so auch ent­wi­ckel­te ich mir schnell, was in dem Be­griff ei­ner Sa­che lag. In rhe­to­ri­schen Din­gen, Chri­en und der­glei­chen tat es mir nie­mand zu­vor, ob ich schon we­gen Sprach­feh­ler oft hint­an­ste­hen muss­te. Sol­che Auf­sät­ze wa­ren es je­doch, die mei­nem Va­ter be­son­de­re Freu­de mach­ten, und we­gen de­ren er mich mit man­chem, für einen Kna­ben be­deu­ten­den Geld­ge­schenk be­lohn­te.

      Mein Va­ter lehr­te die Schwes­ter in dem­sel­ben Zim­mer Ita­liä­nisch, wo ich den Cel­la­ri­us aus­wen­dig zu ler­nen hat­te. In­dem ich nun mit mei­nem Pen­sum bald fer­tig war und doch still sit­zen soll­te, horch­te ich über das Buch weg und fass­te das Ita­liä­ni­sche, das mir als eine lus­ti­ge Ab­wei­chung des La­tei­ni­schen auf­fiel, sehr be­hän­de.

      An­de­re Früh­zei­tig­kei­ten in Ab­sicht auf Ge­dächt­nis und Kom­bi­na­ti­on hat­te ich mit je­nen Kin­dern ge­mein, die da­durch einen frü­hen Ruf er­langt ha­ben. Des­halb konn­te mein Va­ter kaum er­war­ten, bis ich auf Aka­de­mie ge­hen wür­de. Sehr bald er­klär­te er, dass ich in Leip­zig, für wel­ches er eine große Vor­lie­be be­hal­ten, gleich­falls Jura stu­die­ren, als­dann noch eine an­de­re Uni­ver­si­tät be­su­chen und pro­mo­vie­ren soll­te. Was die­se zwei­te be­traf, war es ihm gleich­gül­tig, wel­che ich wäh­len wür­de; nur ge­gen Göt­tin­gen hat­te er, ich weiß nicht warum, ei­ni­ge Ab­nei­gung, zu mei­nem Leid­we­sen: denn ich hat­te ge­ra­de auf die­se viel Zu­trau­en und große Hoff­nun­gen ge­setzt.

      Fer­ner er­zähl­te er mir, dass ich nach Wetz­lar und Re­gens­burg, nicht we­ni­ger nach Wien und von da nach Ita­li­en ge­hen soll­te; ob er gleich wie­der­holt be­haup­te­te, man müs­se Pa­ris vor­aus se­hen, weil man aus Ita­li­en kom­mend sich an nichts mehr er­get­ze.

      Die­ses Mär­chen mei­nes künf­ti­gen Ju­gend­gan­ges ließ ich mir gern wie­der­ho­len, be­son­ders da es in eine Er­zäh­lung von Ita­li­en und zu­letzt in eine Be­schrei­bung von Nea­pel aus­lief. Sein sons­ti­ger Ernst und sei­ne Tro­cken­heit schie­nen sich je­der­zeit auf­zu­lö­sen und zu be­le­ben, und so er­zeug­te sich in uns Kin­dern der lei­den­schaft­li­che Wunsch, auch die­ser Pa­ra­die­se teil­haft zu wer­den.

      Pri­vat­stun­den, wel­che sich nach und nach ver­mehr­ten, teil­te ich mit Nach­bars­kin­dern. Die­ser ge­mein­sa­me Un­ter­richt för­der­te mich nicht; die Leh­rer gin­gen ih­ren Schlen­dri­an, und die Un­ar­ten, ja manch­mal die Bös­ar­tig­kei­ten mei­ner Ge­sel­len brach­ten Un­ruh, Ver­druss und Stö­rung in die kärg­li­chen Lehr­stun­den. Chre­sto­ma­thi­en, wo­durch die Be­leh­rung hei­ter und man­nig­fal­tig wird, wa­ren noch nicht bis zu uns ge­kom­men. Der für jun­ge Leu­te so star­re Cor­ne­li­us Nepos, das all­zu leich­te und durch Pre­dig­ten und Re­li­gi­ons­un­ter­richt so­gar tri­vi­al ge­w­ord­ne Neue Te­sta­ment, Cel­la­ri­us und Pa­sor konn­ten uns kein In­ter­es­se ge­ben; da­ge­gen hat­te sich eine ge­wis­se Reim- und Ver­se­wut, durch Le­sung der da­ma­li­gen deut­schen Dich­ter, un­ser be­mäch­tigt. Mich hat­te sie schon frü­her er­grif­fen, als ich es lus­tig fand, von der rhe­to­ri­schen Be­hand­lung der Auf­ga­ben zu der poe­ti­schen über­zu­ge­hen.

      Wir Kna­ben hat­ten eine sonn­täg­li­che Zu­sam­men­kunft, wo je­der von ihm selbst ver­fer­tig­te Ver­se pro­du­zie­ren soll­te. Und hier be­geg­ne­te mir et­was Wun­der­ba­res, was mich sehr lan­ge in Un­ruh setz­te. Mei­ne Ge­dich­te, wie sie auch sein moch­ten, muss­te ich im­mer für die bes­sern hal­ten. Al­lein ich be­merk­te bald, dass mei­ne Mit­wer­ber, wel­che sehr lah­me Din­ge

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