Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe Klassiker bei Null Papier

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der Wahr­heit zu fin­den; ja ich stock­te so­gar in mei­nen Her­vor­brin­gun­gen, bis mich end­lich Leicht­sinn und Selbst­ge­fühl und zu­letzt eine Pro­be­ar­beit be­ru­hig­ten, die uns Leh­rer und El­tern, wel­che auf un­se­re Scher­ze auf­merk­sam ge­wor­den, aus dem Steg­reif auf­ga­ben, wo­bei ich gut be­stand und all­ge­mei­nes Lob da­von­trug.

      Man hat­te zu der Zeit noch kei­ne Biblio­the­ken für Kin­der ver­an­stal­tet. Die Al­ten hat­ten selbst noch kind­li­che Ge­sin­nun­gen und fan­den es be­quem, ihre ei­ge­ne Bil­dung der Nach­kom­men­schaft mit­zu­tei­len. Au­ßer dem »Or­bis pic­tus« des Amos Co­me­ni­us kam uns kein Buch die­ser Art in die Hän­de; aber die große Fo­lio­bi­bel, mit Kup­fern von Me­ri­an, ward häu­fig von uns durch­blät­tert; Gott­frieds »Chro­nik«, mit Kup­fern des­sel­ben Meis­ters, be­lehr­te uns von den merk­wür­digs­ten Fäl­len der Welt­ge­schich­te; die »A­cer­ra phi­lo­lo­gi­ca« tat noch al­ler­lei Fa­beln, My­tho­lo­gi­en und Selt­sam­kei­ten hin­zu; und da ich gar bald die Ovi­di­schen »Ver­wand­lun­gen« ge­wahr wur­de und be­son­ders die ers­ten Bü­cher flei­ßig stu­dier­te, so war mein jun­ges Ge­hirn schnell ge­nug mit ei­ner Mas­se von Bil­dern und Be­ge­ben­hei­ten, von be­deu­ten­den und wun­der­ba­ren Ge­stal­ten und Er­eig­nis­sen an­ge­füllt, und ich konn­te nie­mals lan­ge Wei­le ha­ben, in­dem ich mich im­mer­fort be­schäf­tig­te, die­sen Er­werb zu ver­ar­bei­ten, zu wie­der­ho­len, wie­der her­vor­zu­brin­gen.

      Ei­nen fröm­mern, sitt­li­chern Ef­fekt, als jene mit­un­ter ro­hen und ge­fähr­li­chen Al­ter­tüm­lich­kei­ten, mach­te Fe­ne­lons »Te­le­mach«, den ich erst nur in der Neu­kirchi­schen Über­set­zung ken­nen lern­te und der, auch so un­voll­kom­men über­lie­fert, eine gar süße und wohl­tä­ti­ge Wir­kung auf mein Ge­müt äu­ßer­te. Dass »Ro­bin­son Cru­soe« sich zei­tig an­ge­schlos­sen, liegt wohl in der Na­tur der Sa­che; dass »die In­sel Fel­sen­burg« nicht ge­fehlt habe, lässt sich den­ken. Lord An­sons »Rei­se um die Welt« ver­band das Wür­di­ge der Wahr­heit mit dem Fan­ta­sie­rei­chen des Mär­chens, und in­dem wir die­sen treff­li­chen See­mann mit den Ge­dan­ken be­glei­te­ten, wur­den wir weit in alle Welt hin­aus­ge­führt und ver­such­ten, ihm mit un­sern Fin­gern auf dem Glo­bus zu fol­gen. Nun soll­te mir auch noch eine reich­li­che­re Ern­te be­vor­stehn, in­dem ich an eine Mas­se Schrif­ten ge­riet, die zwar in ih­rer ge­gen­wär­ti­gen Ge­stalt nicht vor­treff­lich ge­nannt wer­den kön­nen, de­ren In­halt je­doch uns man­ches Ver­dienst vo­ri­ger Zei­ten in ei­ner un­schul­di­gen Wei­se nä­her bringt.

      Der Ver­lag oder viel­mehr die Fa­brik je­ner Bü­cher, wel­che in der fol­gen­den Zeit un­ter dem Ti­tel Volks­schrif­ten, Volks­bü­cher, be­kannt und so­gar be­rühmt ge­wor­den, war in Frank­furt selbst, und sie wur­den, we­gen des großen Ab­gangs, mit ste­hen­den Let­tern auf das schreck­lichs­te Lösch­pa­pier fast un­le­ser­lich ge­druckt. Wir Kin­der hat­ten also das Glück, die­se schätz­ba­ren Über­res­te der Mit­tel­zeit auf ei­nem Tisch­chen vor der Hau­stü­re ei­nes Bü­cher­tröd­lers täg­lich zu fin­den und sie uns für ein paar Kreu­zer zu­zu­eig­nen. Der »Eu­len­spie­gel«, »Die vier Hai­mons­kin­der«, »Die schö­ne Me­lu­si­ne«, »Der Kai­ser Ok­ta­vi­an«, »Die schö­ne Ma­ge­lo­ne«, »For­tu­na­tus«, mit der gan­zen Sipp­schaft bis auf den »Ewi­gen Ju­den«, al­les stand uns zu Diens­ten, so­bald uns ge­lüs­te­te, nach die­sen Wer­ken an­statt nach ir­gend ei­ner Nä­sche­rei zu grei­fen. Der größ­te Vor­teil da­bei war, dass, wenn wir ein sol­ches Heft zer­le­sen oder sonst be­schä­digt hat­ten, es bald wie­der an­ge­schafft und aufs neue ver­schlun­gen wer­den konn­te.

      Wie eine Fa­mi­li­en­spa­zier­fahrt im Som­mer durch ein plötz­li­ches Ge­wit­ter auf eine höchst ver­drieß­li­che Wei­se ge­stört und ein fro­her Zu­stand in den wi­der­wär­tigs­ten ver­wan­delt wird, so fal­len auch die Kin­der­krank­hei­ten un­er­war­tet in die schöns­te Jahrs­zeit des Früh­le­bens. Mir er­ging es auch nicht an­ders. Ich hat­te mir eben den »For­tu­na­tus« mit sei­nem Sä­ckel und Wünsch­hüt­lein ge­kauft, als mich ein Miss­be­ha­gen und ein Fie­ber über­fiel, wo­durch die Po­cken sich an­kün­dig­ten. Die Ein­imp­fung der­sel­ben ward bei uns noch im­mer für sehr pro­ble­ma­tisch an­ge­se­hen, und ob sie gleich po­pu­lä­re Schrift­stel­ler schon fass­lich und ein­dring­lich emp­foh­len, so zau­der­ten doch die deut­schen Ärz­te mit ei­ner Ope­ra­ti­on, wel­che der Na­tur vor­zu­grei­fen schi­en. Spe­ku­lie­ren­de Eng­län­der ka­men da­her aufs fes­te Land und impf­ten, ge­gen ein an­sehn­li­ches Ho­no­rar, die Kin­der sol­cher Per­so­nen, die sie wohl­ha­bend und frei von Vor­ur­teil fan­den. Die Mehr­zahl je­doch war noch im­mer dem al­ten Un­heil aus­ge­setzt; die Krank­heit wü­te­te durch die Fa­mi­li­en, tö­te­te und ent­stell­te vie­le Kin­der, und we­ni­ge El­tern wag­ten es, nach ei­nem Mit­tel zu grei­fen, des­sen wahr­schein­li­che Hil­fe doch schon durch den Er­folg man­nig­fal­tig be­stä­tigt war. Das Übel be­traf nun auch un­ser Haus und über­fiel mich mit ganz be­son­de­rer Hef­tig­keit. Der gan­ze Kör­per war mit Blat­tern über­sä­et, das Ge­sicht zu­ge­deckt, und ich lag meh­re­re Tage blind und in großen Lei­den. Man such­te die mög­lichs­te Lin­de­rung und ver­sprach mir gol­de­ne Ber­ge, wenn ich mich ru­hig ver­hal­ten und das Übel nicht durch Rei­ben und Krat­zen ver­meh­ren woll­te. Ich ge­wann es über mich; in­des­sen hielt man uns, nach herr­schen­dem Vor­ur­teil, so warm als mög­lich und schärf­te da­durch nur das Übel. End­lich, nach trau­rig ver­flos­se­ner Zeit, fiel es mir wie eine Mas­ke vom Ge­sicht, ohne dass die Blat­tern eine sicht­ba­re Spur auf der Haut zu­rück­ge­las­sen; aber die Bil­dung war merk­lich ver­än­dert. Ich selbst war zu­frie­den, nur wie­der das Ta­ges­licht zu se­hen und nach und nach die fle­cki­ge Haut zu ver­lie­ren; aber an­de­re wa­ren un­barm­her­zig ge­nug, mich öf­ters an den vo­ri­gen Zu­stand zu er­in­nern; be­son­ders eine sehr leb­haf­te Tan­te, die frü­her Ab­göt­te­rei mit mir ge­trie­ben hat­te, konn­te mich, selbst noch in spä­tem Jah­ren, sel­ten an­se­hen, ohne aus­zu­ru­fen: »Pfui Teu­fel! Vet­ter, wie gars­tig ist Er ge­wor­den!« Dann er­zähl­te sie mir um­ständ­lich, wie sie sich sonst an mir er­geht, wel­ches Auf­se­hen sie er­regt, wenn sie mich um­her­ge­tra­gen; und so er­fuhr ich früh­zei­tig, dass uns die Men­schen für das Ver­gnü­gen, das wir ih­nen ge­währt ha­ben, sehr oft emp­find­lich bü­ßen las­sen.

      We­der von Ma­sern noch Wind­blat­tern, und wie die Quäl­geis­ter der Ju­gend hei­ßen mö­gen, blieb ich ver­schont, und je­des Mal ver­si­cher­te man mir, es wäre ein Glück, dass die­ses Übel nun für im­mer vor­über sei; aber lei­der droh­te schon wie­der ein andres im Hin­ter­grund und rück­te her­an. Alle die­se Din­ge ver­mehr­ten mei­nen Hang zum Nach­den­ken, und da ich, um das Pein­li­che der Un­ge­duld von mir zu ent­fer­nen, mich schon öf­ter im Aus­dau­ern ge­übt hat­te, so schie­nen mir die Tu­gen­den, wel­che ich an den Stoi­kern hat­te rüh­men hö­ren, höchst nach­ah­mens­wert, umso mehr, als durch die christ­li­che Dul­dungs­leh­re ein Ähn­li­ches emp­foh­len wur­de.

      Bei Ge­le­gen­heit die­ses Fa­mi­li­en­lei­dens will ich auch noch ei­nes Bru­ders ge­den­ken, wel­cher, um drei Jahr jün­ger als ich, gleich­falls von je­ner An­ste­ckung er­grif­fen wur­de und nicht we­nig da­von litt. Er war von zar­ter Na­tur, still und ei­gen­sin­nig, und wir hat­ten nie­mals ein ei­gent­li­ches

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