Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?. Wolfgang Krieger

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Postsowjetische Identität?  - Постсоветская идентичность? - Wolfgang Krieger

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      Der Gebrauch des Begriffes Identität ist also auch hinsichtlich des Referenzobjektes vielfältig. Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen der Identität des Individuums und der Identität von Kollektiven (die auf Zuschreibungen des/der internen oder externer Beobachter*innen beruhen kann). Für den Begriff des „kollektiven Identität“ ist ferner zu unterscheiden, ob die Zuschreibungen dem Kollektiv selbst oder der Zugehörigkeit eines Indidivuums zu einem Kollektiv gelten. Für letztere gilt, dass das Individuum so viele kollektive Identitäten haben kann, wie es Mitglied von Kollektiven ist. Die kollektiven Identitäten des Individuums bilden zusammen mit der individuellen Identität seine „personale Identität“.8

      Ein Beispiel: Von kollektiver Identität kann die Rede sein, wenn ein Kollektiv, etwa die Mitglieder einer bestimmten Ethnie, durch besondere Merkmale gekennzeichnet scheint. Beschrieben wird dann die „kollektive Identität“ dieses Kollektivs. Freilich gelten dann diese Merkmale auch für jedes Mitglied. Nun ist die „kollektive Identität“ Teil seiner „personalen Identität“ und bezeichnet eine Zugehörigkeit zum Kollektiv. Desweiteren aber enthält die „personale Identität“ auch die individuelle Identität im Sinne einer Vielzahl von Merkmalen, die in relativ einmaliger Kombination die Besonderheit des Individuums jenseits seiner kollektiven Identitäten beschreiben. Insofern Individuen mehreren Kollektiven zugehörig sind, kommen ihnen auch mehrere kollektive Identitäten zu,9 welche sie in ihrer „personalen Identität“ auf individuelle Weise gewichten und möglicherweise versuchen miteinander vereinbarlich oder für einander nützlich zu machen.

      Die Konstruktionen kollektiver Identität lassen sich durch eine weitere Systematik hinsichtlich der wichtigsten Kriterien für die Zugehörigkeit unterscheiden. Sohst sieht ein historisches Entwicklungsmodell veschiedener Formen kollektiver Identität, die auf dem jeweils bestehenden Menschenbild der jeweiligen Epoche und den kulturell praktizierten Zuschreibungen von sozialen Zugehörigkeitsparametern beruhen. Für maßgeblich für die Art der Zugehörigkeitsattributionen hält er die zeitliche Orientierung der kollektiven Identität. Er unterscheidet eine „archaische Proto-Identität“, die etwa bis 40.000 Jahre vor Christus verbreitet gewesen sein dürfte und deren Zuschreibungen unabhängig von zeitlichen Differenzierungen erfolgt sind und sich auf die je aktuelle Zugehörigkeit zu einer Sippe oder Familie beschränkte, eine darauf folgende Abspaltung einer individuellen, wie sie etwa in der griechischen Antike in der „Erfindung des Individuums“ beobachtet werden kann, von einer „kollektiv-anzestral orientierten Identität“, für welche eine herkunfts- und damit vergangenheitsbezogene Orientierung kennzeichnend ist (etwa im Ahnenkult symbolisiert), sodann einer „präsentisch kollektiven und individuellen Identität“ ab etwa 1550, die die Zugehörigkeit durch gegenwartsbezogene Merkmale definiert, etwa durch die Nützlichkeit für die gegenwärtige Situation, wie sie der Utilitarismus des Hobbes’schen Rationalismus beispielweise beschwört, und schließlich einer „programmatisch zukunftsorientierten kollektiven wie auch individuellen Identität“, deren Zugehörigkeitsmerkmale auf der individuell gewollten Teilhabe an einem kollektiven Programm bzw. auf individuellen Zielen für einen zukünftig zu erreichenden Zustand beruht.10

      Diese Typik bzw. „Entwicklungslogik“ der Identitätskonstruktionen lässt sich möglicherweise auch als analytisches Instrument zur Erklärung von Identitätsdifferenzen zwischen westlich-individualistischen Kulturen und östlich-kollekti-vistischen Kulturen heranziehen, da sie auf Merkmale rekurriert, die für die heutigen westeuropäischen Kulturen und die postsowjetischen Kulturen zumindest von sehr unterschiedlichem Gewicht sind, wenn nicht gar grundsätzlich differieren. So verweisen nationalistische und ethnizistische Identitätskonstruktionen stets in ihrem Kern auf den Typus einer „kollektiv-anzestral orientierten Identität“11, während Identitätskonstruktionen, die dem Gedanken einer individuellen Selbstverwirklichung und einer dem gesellschaftlichen Fortschritt dienlichen Lebensweise dem Typus einer „programmatisch zukunftsorientierten Identität“ zuzurechnen sind. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass die von Sohst mit dem Anspruch einer epochalen Begrenztheit erarbeiteten Typen in den heutigen pluralen Gesellschaften wohl überall in durchmischter Form anzutreffen sind und eben dies auch den Pluralismus der aktuellen Identitätskonstruktionen ausmacht.

      3. Phänomenologie der personalen Identität

      Der Gebrauch des Begriffes Identität im Blick auf den Menschen taucht auf zwei Ebenen auf, zum einen auf einer phänomenal empirischen Ebene, geleitet von der Frage, womit identifizieren sich bestimmte Menschen, was verstehen sie als ihre Persönlichkeit, als ihre Eigenart oder auch als ihre Rolle, welche Eigenschaften schreiben sie sich zu, welche Interessen und welches Ideal zeichnen sie von sich; zum zweiten auf einer interpretativ erklärenden Ebene, die quasi den Hintergrund bildet für die erstere, geleitet von der Frage, was steht hinter diesen Identifikationen, was macht sie wertvoll, was begründet sie, welche Werte existieren hinter diesen Identifikationen, warum sind sie überhaupt wichtig und welches allgemeine Bild vom Menschen, vom Sinn des Lebens und von der Gesellschaft und ihrer Kultur ist in ihnen enthalten.

      Die Beobachtungen auf beiden Ebenen sind ferner zu unterscheiden nach der Frage, wer der Beobachter ist, das betreffende Subjekt selbst oder ein äußerer Beobachter (von welchem man freilich viele unterscheiden müsste). „Identität“ schreibt sich das Subjekt selbst zu, etwa in seinen Selbstkonzepten, aber „Identität“ schreiben ihm auch andere zu. Insofern lässt sich folgendes Schema erstellen:

Ebenen Selbstbeobachtung Fremdbeobachtung
Phänomenal empirisch Soziales Selbstkonzept Identifikationen mit… Rollenbewusstsein Wir-Gefühl Ideales Selbstkonzept, Selbstbewusstsein und Selbstwertschätzung Soziale Identität / Kollektive Identität Zugehörigkeit zu … Eingenommene Rollen Status und Image soziale Anerkennung Attribution von Orientierungen
Interpretativ erklärend Selbstverpflichtung Wertebewusstsein Menschenbild Lebenssinn Interessen und Werte vertreten Kulturelles Wissen/ Kulturelle Sinnhorizonte

      Verschiedene humanwissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit diesen Fragen und zwar in der Regel mit beiden Ebenen zugleich, auch wenn sie ihr Augenmerk mit unterschiedlichem Gewicht und Interesse auf die beiden Ebenen richten. Theoriebildend für das Konstrukt „Identität“ ist vor allem einerseits die Soziologie, die Kulturologie und die Ethnologie engagiert und andererseits die Psychologie, daneben in bescheidenerem Maße auch die Politologie.12 In allgemeiner Hinsicht erörtern diese Fragen auch die Philosophie und alle Formen der Anthropologie, die vor allem für die interpretativ erklärende Ebene generelle Argumente beiträgt, insofern die Frage „wer ist der Mensch“ auch immer die Frage nach dem Potenzial des individuellen „Wer-bin-ich“ enthält. Es sollen hier in Blick auf dieses Thema nur zwei dieser disziplinären Sichtweisen herausgegriffen werden, nämlich die soziologische und die psychologische.13

      Soziologie. Soziologisch interessiert am Phänomen der Identität vor allem die einheitsstiftende Wirkung identifikatorischer Konstrukte. Es wird zum Ersten postuliert, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sei es einer Nation, sei es einer Berufsgruppe, einer Szene, sei es einer konkreten Familie, den Mitgliedern eine gemeinsame Spezifität verleiht und somit zu einem Symbol ihrer sozialen oder kollektiven Identität werden kann.14 Zum Zweiten untersucht die Soziologie, hier oft im Verein mit der Psychologie, die Frage, welche sozialisatorischen Einflüsse von sozialen Kohorten, sozialen Schichten und Teil- und Subkulturen auf die Ausbildung von subjektiven, sozial ausgerichteten Einstellungen und Haltungen bestehen und durch Identifikation identitätsbildend sind. Zum Dritten entwirft die Soziologie Zeitdiagnosen, die eine übergeordnete epochale Identität gesellschaftlicher Mitglieder in einer bestimmten Kultur annehmen lässt.15

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