Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?. Wolfgang Krieger
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So stellt der Auftrag, die für dieses Buch programmatische Ausgangsfrage nach der Existenz und Eigenart einer „postsowjetischen Identität” und den ihr zugrunde liegenden kulturellen Wertorientierungen zu beantworten, möglicherweise angesichts der tatsächlichen kulturhistorischen Realität eine überfordende Aufgabe dar. Mithin kann ein anderer Auftrag möglich sein zu bearbeiten, nämlich, den Stand der gesellschaftlichen Bewältigung einer Aufgabe zu dokumentieren, als die sich die Gewinnung einer neuen Identität nach dem Ende der sowjetischen Identität darstellt. Auch diese Aufgabe impliziert wiederum eine Ausgangsvoraussetzung, die zuerst zu konkretisieren wäre, bevor man sich der Aufgabe selbst zuwenden könnte. Vorausgesetzt wird, dass sich überhaupt eine „sowjetische Identität” konstruieren lässt, die ihre Plausibilität aus der Beobachtung der vergangenen gesellschaftlichen Realitäten in den Sowjetstaaten herzuleiten vermag. Dies geschieht in diesem Buch an vielen Stellen, an welchen neue Phänomene im Kontrast zur Vergangenheit dargestellt werden und die Suche nach neuen Lösungen der gesellschaftlichen Probleme in ihrer Gegensätzlichkeit zu alten Modalitäten artikuliert wird. Auch wenn die Beschreibung einer „sowjetischen Identität” hier nicht systematisch verfolgt warden kann, so klingt doch vielerorts an, was für sie konstitutiv war und im Prozess der Transformation verloren ging.4
2. Zur Logik des Identitätsbegriffes
Die Rede von Identität hat Voraussetzungen in vielerlei Hinsicht und zweifellos ist die wichtigste Voraussetzung eine logische, ohne welche der Begriff der Identität in jedem Falle keinen Sinn haben könnte, nämlich die Voraussetzung, dass eine Sache oder eine Person mit sich selbst identisch sein kann, ohne dass diese Aussage nur den banalen Inhalt hat, dass man etwas zweimal mit demselben Begriff bezeichnen kann. Zumeist wird das Mit-sich-selbst-identisch-Sein auf den zeitlichen Aspekt bezogen: Identität behauptet die Stabilität von Merkmalen über die Zeit hinweg. Wir erklären sie uns gern durch Essentialisierung, durch einen „harten Kern” des Ich, durch „unsere Natur”, unseren Charakter. „When people talk about identity,” schreibt Suny, „however, their language almost always is about unity and internal harmonyand tends to naturalize wholeness. It defaults to an earlier understanding of identity as the stable core. Almost unavoidably, particularly when one is unselfconscious about identity, identity-talk tends to ascribe behaviors to given characteristics in a simple, unmediated transference. One does this because one is that.”5
Die Rede von Identität hat logisch nur einen Sinn, wenn eine Differenz vorausgesetzt wird, durch die zwei zu beobachtende Phänomene verglichen werden und sodann doch als dasselbe in gewisser Hinsicht erkannt werden können. Hierfür seien sechs Varianten aufgeführt:6 sei es eine Differenz in der Zeit (etwas bleibt dasselbe oder kehrt wieder in einen Zustand zurück, den es schon einmal innehatte), sei es eine Differenz im Raum (etwas bleibt dasselbe, unabhängig von den Räumen und Situationen, in denen es auftaucht) sei es eine Differenz der Erscheinung auf unterschiedlichen phänomenalen Ebenen, in welchen doch ein Gemeinsames enthalten ist, sei es eine Differenz der Entitäten, die doch durch eine gemeinsame Geschichte vergleichbar sind, sei es eine Differenz zwischen der Erscheinung einer Sache oder Person und ihrer Herkunft, deren Wirksamkeit als unauflösbar gilt, mithin ihre Identität ausmacht, sei es eine Differenz zwischen zwei Beobachtungen, die etwas Verschiedenes als dennoch die gleiche Sache erscheinen lassen, weil es ein gemeinsames Merkmal gibt.
Veranschaulichen wir diese sechs Varianten der Differenz und das ihnen zuzuordnende Identitätsverständnis jeweils an einem Beispiel.
1 Herr Ivanov ist immer noch derselbe, so cholerisch und jähzornig, wie er schon als Kind war (Identität durch zeitliche Kontinuität),
2 Herr Ivanov ist derselbe, egal ob er zuhause herumschreit oder bei der Arbeit (Identität durch Unveränderlichkeit im Raum),
3 In beidem, sowohl in seinen Entscheidungen wie auch in seinen Fragen kann man erkennen, dass Herr Ivanov sich immer vom Prinzip der Gleichberechtigung leiten lässt (Identität durch eine übergeordnete Konstante),
4 Herr Ivanov ist durch und durch ein Moskauer Fußballer, denn er hat fünfzehn Jahre bei Spartak Moskau gespielt und ist immer dem Verein treu geblieben (Identität durch gemeinsames Schicksal bzw. Integration),
5 Auch wenn Herr Ivanov fünfzehn Jahre bei Spartak gespielt hat, so bleibt er doch ein Ukrainer in seinem Wesen (Identität durch Abgrenzung einer inneren Wesenheit),
6 Ob sie nun lang und dünn ist oder kurz und dick, wenn sie oben eine Öffnung hat und unten einen Fuß und man sie mit Wasser füllen kann, ist es eine Vase (Identität durch gemeinsame Merkmale).
Alle sechs Varianten – es mag noch weitere geben – zeigen, dass die Zuschreibungen von Identität zuvor die Setzung einer Nicht-Identität benötigen, also eine Unterscheidung voraussetzen. Kurzum: Ohne Differenz keine Identität.
Diese Setzung einer Nicht-Identität ist die Voraussetzung für den Vergleich der beiden Phänomene. Sie sind vereint in einem Dritten, welches ohne die Schaffung einer Differenz die beiden Phänomene noch gar nicht zu erkennen geben könnte. In unserem Beispiel ist die Beobachtung von Herrn Ivanov jenes Dritte, in welchem zwei Phänomene, etwa Herr Ivanov heute und gestern, hervortreten, indem die Einführung einer Beobachtung von zeitlicher Differenz seine Einheit spaltet. Diese Beobachtung einer zeitlichen Differenz ist regelrecht eine Operation des Unterscheidens jenes Dritten in zwei einander gegenübergestellte Phänomene, nämlich Herr Ivanov heute und Herr Ivanov gestern. Die Gegenüberstellung schafft die Basis für die Möglichkeit des Vergleiches, sie schafft dem Vergleich die Objekte einer weiteren Beobachtung, die nun ihrerseits weitere Unterscheidungen vollzieht.
Diese Betrachtung der Identität schließt an an die Logik des Unterscheidens von George Spencer-Brown in seinen „Gesetzen der Form”.7 Sie ist auch insofern für ein Konstrukt der „postsowjetischen Identität” bedenkenswert, als sie darauf hinweist, dass jede Operation des Unterscheidens und damit des Beobachtens auch einen „unmarked space”, einen Raum des Nichtbeobachteten hinterlässt, d. h., indem sie etwas Bestimmtes beobachtet, gerade anderes von der Beobachtung ausschließt. Jeder Unterscheidung, die vollzogen wird, geht eine andere Unterscheidung voraus, in der entschieden wird, was beobachtet werden soll und was nicht. Insofern ist jede Unterscheidung „voreingenommen”, „vorbelastet” durch eine nicht unbedingt bewusste Routine der Beobachtungsoperationen und einen nicht unbedingt reflektierten Beobachtungswillen.
Dieser Aspekt ist auch für die Suche nach identitätsrelevanten Parametern in Persönlichkeitsstrukturen, im sozialen Handeln, in sozialen Institutionalisierungs-prozessen und in kulturellen Ausdrucksformen in Rechnung zu stellen. Wer nach Identität sucht, bringt schon einen Fundus an Hypothesen mit über Faktoren, die er für den Fortbestand der Person, der Gesellschaft, der Kultur als wahrscheinlich unverzichtbar vermutet und die seine Suche daher immer schon in bestimmte Wege leiten. Die Begriffe, denen das Postulat von Identität zugesprochen wird (Persönlichkeit, Gesellschaft, Kultur) sind es nicht zuletzt auch selbst, die jene Voreingenommenheit schon konstituieren; denn sie rekurrieren auf relativ konstant bleibende Parameter, grenzen Systeme ab von anderen Systemen und verpflichten so schon zur Suche nach dem unveränderlichen Merkmal, das die Unterschiede ausmacht. „Identität” ist daher schon den Begriffen