Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?. Wolfgang Krieger
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Людвигсхафен на Рейне, сентябрь 2020 г.
Профессор, доктор Вольфганг Кригер
Zur Einführung
Введение
„Postsowjetische Identität“
Eine Einführung
zur Logik des Identitätsbegriffes
Wolfgang Krieger
Die Rede von einer „postsowjetischen Identität“ ist voraussetzungsvoll. Sowohl der Begriff des „Postsowjetischen“ als auch der Begriff der „Identität“ enthalten Implikationen, die klare, einheitliche und feststehende Merkmale suggerieren. Der Begriff der „postsowjetischen Identität“ suggeriert, dass es auf der Basis des gemeinsamen Schicksals der Beendigung des Sowjetreiches eine alle betroffenen Nationen und Ethnien gemeinsame neue kollektive Identität gäbe. Der Begriff des „Postsowjetischen“ postuliert ferner eine Abgeschlossenheit der sowjetischen Epoche, der sowjetischen Kultur, des sowjetischen Lebensgefühls etc., die unhinterfragt vorauszusetzen sicherlich höchst oberflächlich wäre.
Hingegen ist die Feststellung sicher richtig, dass in allen betroffenen Ländern durch diese Veränderung ein Orientierungsverlust eingetreten ist, eine Krise des kollektiven Selbstbildes, eine Krise der Werte und der Lebensentwürfe, die neue Antworten auf die Frage nach einer eigenen sinnorientierten Identität unter veränderten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen notwendig machte. Denn der Prozess der sogenannten „postsowjetischen Transformation hat nicht nur wirtschaftliche und politische Dimensionen, er hat auch eine Dimension der gesellschaftlichen Sinnschöpfung und des Wertebewusstseins einerseits wie auch der individuellen Neuorientierung an Lebensidealen und -plänen andererseits. Beides steht miteinander in engem Zusammenhang.
Die Anforderungen an die Transformation lassen sich zunächst in vier Hauptveränderungen kategorisieren: In der Schaffung eines neuen Staatswesens anstelle der sowjetischen Überstaates in einer Situation nahezu anomischer Instabilität, in der Ersetzung der Planwirtschaft durch eine liberale kapitalistische Marktwirtschaft, in der zumindest formalen Ablösung eines autoritären Einparteiensystems durch ein demokratisches Mehrparteiensystem und schließlich in der Umwandlung einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft in eine schichtendifferenzierte kapitalistische Gesellschaft. Mit diesen Veränderungen hängen weitere zusammen, etwa in der Entstehung von neuen Risiken der Lebenssicherung, von Wettbewerb und Konkurrenzverhältnissen, von staatlicher Versorgung zu freien Dienstleistungs-beanspruchung, vom autoritären Geführtwerden zu partizipativem Handeln etc. All diese Veränderungen sind nicht nur von gesellschaftlicher Bedeutung, sondern sie stellen auch individuell neue Anforderungen an die Konstitution der Persönlichkeit, die sich mit diesen neuen Verhältnissen erfolgreich zu arrangieren hat und das eigene Vorankommen wie auch den gesellschaftlichen Fortschritt nun mit anderen Mitteln zu unterstützen gefordert ist.
Es ist eine historische Binsenweisheit, dass kulturelle Orientierungen ebenso wie soziale Institutionen oder auch schlicht das materielle Lebensumfeld der Menschen nicht von jetzt auf nachher und auch nicht in wenigen Jahren, eher Jahrzehnten gänzlich aufgelöst und durch Alternativen ersetzt werden können. Alles, was Menschen schaffen, beruht auf der (Weiter)verarbeitung dessen, was ihnen zu Händen ist und was sie schon kennen. Niemand kann seine Geschichte einfach abstreifen wie einen Mantel und einen neuen Mantel anziehen, sondern er kann nur in kleinen Schritten restaurieren und ersetzen, was nicht mehr „haltbar” ist. Auch zu Beginn einer neuen Epoche fällt nichts vom Himmel, sondern alles muss neu erworben und erkämpft werden, muss etabliert und stabilisiert werden. Und selbst dort, wo es gelingen mag, das Vorige in sein Gegenteil zu verkehren, bleibt die Gegenwart geleitet von einer vorbestimmten Richtung des Kontrastierens, die sich wiederum dem Vorigen verdankt und dem, was an ihm als änderungsbedürftig galt. Es gibt nichts Neues, dessen Substanz und Ursache nicht letztlich das Alte ist.
1. Das Postsowjetische als Identitätsträger
Ob es noch sinnvoll ist, den Begriff des „Postsowjetischen“ überhaupt zu benutzen, wird schon seit der Jahrtausendwende verschiedentlich in Frage gestellt. So wird beispielsweise der Begriff des „postsowjetischen Raums“ schon länger kritisiert, da die geopolitische Einheitlichkeit des ehemals sowjetischen Raumes sich in den so zusammengefassten Ländern nicht mehr feststellen lässt.1 Hier wird freilich postuliert, dass die sowjetische Einheitskonstruktion sich in der gegenwärtigen Lage dieser Länder immer noch, wenn auch in gewandelter Form, „postsowjetisch“ fortsetzen würde. Das ist sicherlich angesichts der so unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern nicht mehr zutreffend. Sinnvoll ist der Begriff des „Postsowjetischen“ aber sicherlich noch dann, wenn man ihn nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Vergangenheit heraus begründet und zur Bezeichnung jener Länder und Kulturen verwendet, die ehemals der Sowjetunion angehörten, auch wenn man vom „Postsowjetischen“ heute nur noch im Plural sprechen kann. Alle so bezeichneten Länder haben dennoch eine vereinigende Geschichte des „gemeinsamen Schicksals“ und haben bis zum heutigen Tage auf den verschiedensten Ebenen das „Erbe“ der Sowjetunion zu bewältigen.
Wenn also von einer „postsowjetischen Epoche” die Rede ist, so ist zunächst einmal nicht mehr behauptet, als dass eine vorige Epoche – mit bestimmten Strukturen und Eigenheiten – beendet worden ist und – wie könnte es anders sein – auf ihren Trümmern wohl eine neue Epoche im Begriff ist errichtet zu werden. Doch ist ein solches Bild verfänglich: Aus heutiger Sicht mögen für viele die Überbleibsel der Sowjetzeit nur wie Ruinen erscheinen, wie die Säulen, Tempel und Sarkophage des Forum Romanum, die sich Touristen im Bewusstsein historischer Distanziertheit als Relikte einer vergangenen Epoche betrachten. Sehr anders verhält es sich mit den Ruinen der Sowjetzeit: In den postsowjetischen Ländern leben die Menschen in den sowjetischen Ruinen und das Maß an historischer Distanz ist den pragmatischen Zwängen entsprechend wohl eher gering.2 Das Erbe der Sowjetzeit ist „in Gebrauch”, im selbstverständlichen und daher oft auch unhinterfragten Gebrauch. Es mag Forscher*innen möglicherweise leicht fallen, die Merkmale der vergangenen Epoche zu beschreiben, denn über Jahrzehnte hinweg konnten sie beobachtet werden, konnten ihre Strukturen und Eigenheiten wahrgenommen, mit Begriffen erfasst, analysiert und in Kontroversen diskutiert werden3 – doch, was danach kommt, ist erst einmal ein unbeschriebenes Blatt, ein Vakuum des Wissens und der Erklärungen, des Verstehens, der Vertrautheiten und der sicheren Einschätzung und es bleibt schwer zu begründen, welche Sprache der Beschreibung des Neuen und Veränderten angemessen wäre.
In einer solchen Phase der Ungewissheiten