Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?. Wolfgang Krieger

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Postsowjetische Identität?  - Постсоветская идентичность? - Wolfgang Krieger

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Identitätstheorie von Erving Goffman (1973) und Lothar Krappmann (1988), die einen solchen dynamischen Identitätsbegriff möglich gemacht hatte.

      Lothar Krappmann hat – ausgehend von Meads Identitätskonzept – vier Grundqualifikationen des Individuums benannt, die für ein angemessenes Rollenhandeln erforderlich sind, nämlich 1.) die Fähigkeit zur Rollenübernahme und zur Empathie in das Selbstverständnis anderer Rolleninhaber als Träger von Absichten, Denkweisen, Interessen und Emotionen, 2.) die Fähigkeit zur Rollendistanz, d. h. zu einem reflektierenden Umgang mit Rollenerwartungen im Einklang mit den eigenen Bedürfnissen und dem Selbstbild, 3.) die Ambiguitätstoleranz als die Fähigkeit, mit dem eigenen Rollenverständnis in Widerspruch stehende Erwartungen, die in Folge von kulturellen oder sozialen Differenzen möglich sind, wahrzunehmen und im eigenen Handeln zu berücksichtigen und 4.) die Fähigkeit zur Identitätsdarstellung, d. h. zum Ausdruck des eigenen Verständnisses von der personalen Identität.

      Gerade letzteres, Identitätsdarstellung, findet bei Jugendlichen und jungen Menschen – so meine These – inzwischen aber bereits selbst in einem „kulturell sanktionierten Raum“ statt, insbesondere in neuen sozialen Medien, d. h. oftmals mittels der Nutzung von Klischees, die eben nicht eine überraschende originelle, vom Erwartbaren abweichende Individualität zulassen, sondern vereinnahmt sind von einem homogenen Identifikationsrepertoire, aus dem die jungen Menschen die Symbole ihrer Identität schöpfen müssen, wenn sie Anerkennung erfahren wollen. Hier gibt es meines Erachtens zum Ersten eine Differenz zwischen dem Osten und dem Westen, aber auch zum Zweiten eine Differenz zwischen den Generationen sowohl in Ost und West.

      Es war wiederum Krappmann, der den Begriff „Identität“ dynamisiert hat mit seiner Annahme, dass die „präsentierte Identität“ keine universelle, konstante Form hat, sondern in Abhängigkeit zu den Interaktionspartnern modifiziert wird.24 Somit ist es möglich, dass Personen ihre Identität in bestimmten Situationen vollkommen anders darstellen als in anderen Situationen, etwa am Arbeitsplatz ganz anders als im Freundeskreis, in den neuen sozialen Medien ganz anders als innerhalb der Familie. Gerade diese Feststellung macht es nun schwierig, von einer allgemeinen „post-sowjetischen Identität“ zu sprechen, denn in all ihren Manifestationen spielt eine Rolle, vor welchem Publikum eine solche Identität dargestellt wird. Dennoch ist es vielleicht möglich, hinter der Vielfalt phänomenaler postsowjetischer Identitäten eine Allgemeinheit einer interpretativ erklärenden postsowjetischen Identität zu finden.

      Zu beachten ist ferner, dass „Identität“ immer auch eine „ausgehandelte Identität“ ist, also auf einem Anpassungsprozess in der Verwendung von bestimmten Symbolen in bestimmten Kontexten beruht. „Symbolische Identität“ muss von anderen verstanden werden, sie muss gewissermaßen auf einer gemeinsamen Sprache aufbauen, die a) von den Kommunikationspartnern als eine Sprache der Selbstdarstellung erkannt wird und b) deren Symbole im einzelnen verstanden, bestimmten Kontexten und Konnotationen zugeordnet werden können. Sie ist allerdings auch strategischen Erfolgsbedingungen unterworfen. Sie ist ein symbolisches Angebot an die Kommunikationspartner*innen, um eigene Ziele zu erreichen, insbesondere um sozialen Gruppierungen und Statusklischees zugeordnet zu werden und um Anerkennung zu erhalten, vielleicht auch Macht und Einfluss zu erlangen. Insofern korrespondiert der Prozess der Aushandlung von Identität mit der Willkür einer kollektiven „Kultur des Gefallens und Anerkennens“, auf welche der Einzelne keinen Einfluss nehmen kann. Andererseits spiegelt die Identitätspräsentation des Einzelnen gerade deshalb auch jene kollektive Kultur, ihre Klischees und ihre Wertorientierungen wider, in welche die Selbstdarstellung des Einzelnen eingebettet ist. Insofern besteht zwischen der individuellen Selbstdarstellung und der “Identitätskultur” einer Gesellschaft in gewissem Umfang ein determinativer Zusammenhang, der es zum einen gestattet, auch unter den Bedingungen der Postmoderne eine “kollektive Identität” als kulturellen Gehalt zu rekonstruieren, zum anderen erlaubt, in den individuellen Selbstdarstellungen eine kulturelle Kriterienbasis für die Verstehens- und Akzeptanzvermutung herauszuarbeiten.

      5. “Postsowjetische Identität” als Idealtypus im Sinne Webers

      Der Begriff der „Identität“ beansprucht von sich aus eine Logik der Generalisierung und alles, was über eine Identität ausgesagt wird, erstarrt gewissermaßen zum Unveränderlichen, zum Allgegenwärtigen und zum „harten Kern“ des bewegten Lebens allein dadurch, dass das Merkmal des Mit-sich-selbst-Gleichen ihm zugesprochen wird. Insofern ist der Begriff der „Identität“ auf eine ganz andere Weise voraussetzungshaft als der Begriff des „Postsowjetischen“, da er nicht an der Fraglichkeit einer historischen Analyse zu prüfen ist, sondern an der Angemessenheit des generalisierenden Behauptens selbst.

      Zugleich macht die Verwendung des Begriffes der „postsowjetischen Identität“ doch einen Sinn, wenn man sich der Konstruktqualität des Begriffes bewusst ist und „postsowjetische Identität“ nicht als einen Begriff zur treffenden Beschreibung der gesamten gesellschaftlichen Realität versteht, sondern ihn im Sinne Max Webers als idealtypischen Begriff25 verwendet, durch welchen wesentliche, meist neue Merkmale der sozialen Wirklichkeit – möglicherweise mit überzeichnender, ja utopischer Prägnanz – herausgehoben und in ein ordnendes System eingebracht werden. Der Idealtypus ist, wie Weber sagt, eine “gedankliche Konstruktion”, keine empirisch vorfindliche Ausprägung einer Form, sondern ein durchaus einseitig übersteigerndes Beobachtungsprodukt, welches im Wirrwarr des unüberschaubaren Konzertes der Phänomene das Stimmige herausstellt. Der Idealtypus steht zur Wirklichkeit in einem selektiven Vehältnis, er schneidet heraus, was sich zu einer Einheit unter der Prämisse einer voraus angenommenen Sinnhaftigkeit zusammenfügen lässt.

      Gewonnen wird dadurch zum einen ein Instrument, ein Medium zur Analyse der sozialen Realität, quasi ein spezifischer Blick auf das Gegebene, der Besonderheiten in Erscheinung treten lässt, die ohne ihn nicht sichtbar würden, zum anderen ein richtungsweisender Ansatzpunkt für Hypothesen, der die Basis für Forschungskonzepte und für kulturvergleichende Betrachtungen bilden kann.26 Der Idealtypus ist ein Instrument des Vergleichens, er kann der empirischen Wirklichkeit in vergleichender Weise gegenübergestellt werden, um einzelne Phänomene infolge ihrer Ähnlichkeit mit dem Gesetzten hervortreten zu lassen und sie dadurch zu bestätigenden Momenten der idealtypischen Konstruktion zu qualifizieren. In diesem Sinne verstehen wir die Konstruktion einer „postsowjetischen Identität“ als eine idealtypische Begrifflichkeit,

      Der Idealtypus der „postsowjetischen Identität“ ist zum einen jene Folie, die an die beobachtete Wirklichkeit der postsowjetischen Realität angelegt wird, um zu entdecken, was sich zu einem stimmigen und damit hintergrundsreichen Typus zusammenfügen lässt, er ist aber auch selbst der Revision durch die Praxis des Vergleichens ausgesetzt, insofern das, was mittels seiner Anwendung zum Vorschein kommt, auch auf ganz anderes hindeuten kann als das vorab Angenommene. Insofern unterliegt der Idealtypus einem Mechanismus der hermeneutischen Selbstkorrektur; die Prüfung der Ähnlichkeiten kann auch etwas entdecken lassen, was dem Kriterium des Ähnlichen gar nicht entspricht, sondern den Forschenden aus anderen Gründen “ins Auge springt” und sie womöglich veranlasst, den Idealtypus um Neues zu bereichern oder zu korrigieren. Daher soll der Idealtypus nicht als ahistorisches Instrument der Analyse verstanden werden, sondern als eine in der Auseinandersetzung mit der zu analysierenden Wirklichkeit mitwachsende Konstruktion.

      Der Idealtypus erlaubt, eine sinnhafte Stimmigkeit (im Sinne von Webers Begriff der Rationalität) sozialer Phänomene ausfindig zu machen, indem er vorab schon annimmt und sich dementsprechend formiert, dass soziale Phänomene aufeinander derart Einfluss nehmen, dass sich eine solche Stimmigkeit über die Zeit hinweg herausbildet. Sie unterliegen einer Rationalität gegenseitiger Vereinbarlichkeit, die sich den Zwängen gesellschaftlicher Selbstorganisation verdankt.27 Dies postulieren wir ebenfalls, wenn wir den Begriff einer „postsowjetischen Identität“ als idealtypisches Instrument den Analysen in diesem Buch zugrunde legen.

      Die Entwicklung solcher Stimmigkeit braucht Zeit, wie jegliche Selbstorganisationsprozesse Zeit benötigen, um ein funktionierendes strukturelles Ergebnis

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