Mörderisches vom Niederrhein. Regina Schleheck
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Irgendwann fiel das Stichwort »Hexerei«. Vielleicht war es das, was das Ganze wieder – auf Neudeutsch – getriggert hat. »Überhaupt keine Hexerei dabei«, sagte Manni. »Nur Technik, alles Algorithmen.« So ein selbstfahrendes Auto wäre tausendmal rationaler als ein menschlicher Fahrer. Der wäre unaufmerksam, unbeherrscht, würde sich über- und Situationen falsch einschätzen …
Ich bin mir sicher, diese Sprüche sind jedem von uns an die Nieren gegangen. Wir sind alle Eins-a-Fahrer. Beherrschen das Auto und kritische Situationen aus dem Effeff und haben, was früher mal »siebter Sinn« hieß. Man muss ein Gespür entwickeln im Verkehr. Ich wette, man könnte ein Auto von oben bis unten vollpumpen mit Chips, und das käme niemals an uns dran. Und das ist genauso wenig Hexerei. Das ist Erfahrung, Verstand, Kombinationsgabe und Instinkt. Wenn man sich besäuft, klar, dann schaltet man das aus. »Sich betrinken« heißt nicht umsonst »hexen« hierzulande.
Ja, und Käthe hat das mit ihren Fragen immer weiter angeheizt. Ob das Auto das kann und das kann. Bis der Manni irgendwann sagte, er könne mit verbundenen Augen fahren. Sich voll auf seinen Assi verlassen. Er würde es uns beweisen. Ein Stückchen raus aus Korschenbroich, da an der L 382, dem Zubringer zur A 52, Richtung Düsseldorf, eine Strecke von vier Kilometern, also die Willicher und Korschenbroicher Straße. Wir könnten gerne in zwei Wagen vorneweg und hinterherfahren. Dann würde sein Assi – also der Abstandshalteassi – sich an dem vorausfahrenden Fahrzeug orientieren und automatisch das Tempo drosseln, was normalerweise durch den Tempomat so eingestellt wäre, wie es gerade erlaubt ist zu fahren, Landstraße halt 100 Stundenkilometer. Und der Fahrspurassi, der würde sich an den Seitenstreifen orientieren. Und er, Manni, säße mit verbundenen Augen in seinem Lieferwagen so sicher wie in Abrahams Schoß.
Na ja, und das haben wir schließlich tatsächlich gemacht. Jan und Käthe in Jans Auto vorneweg. Dahinter der Manni mit seinem tollen Töfftöff. Als Schlusslicht ich mit meinem Büschen und Ricky. An dem Weinhaus hinter der Bahntrasse haben wir am Straßenrand angehalten und nach dem Manni geguckt. Der hat aus dem Verbandskasten das große Dreieckstuch geholt und sich hinterm Steuer damit die Augen verbunden. Der Jan hat geprüft, ob der Knoten sitzt, und schon ging’s los. Ganz brav im Konvoi. Bis zu der Stelle, etwa auf der Mitte der Strecke, wo die die Asphaltdecke gerade erneuert hatten. Da gab’s halt keine Fahrbahnmarkierung. Und genau dort ist der Jan einem Feldhasen ausgewichen, das war nur ein kurzer Schlenker, die Käthe kann es bezeugen. Na, und dann haben diese blöden Assis sich ihr Teil gedacht. Jedenfalls haben wir uns das später so erklärt. Also der eine, der den Abstand zu Jans Auto einhalten wollte, hat halt auch eingeschlagen. Und weil der Jan das Steuer gleich wieder rumgerissen hat, hat der Abstandsassi gedacht: Oh, cool, Strecke frei, ich brauch gar nicht mehr zu bremsen. Und hat das Tempo aufgedreht. Der Seitenstreifenassi hat sich gedacht: Wo ist denn der Seitenstreifen? Keiner da? Also fahr ich einfach mal geradeaus. Mit 100 Stundenkilometern. Der Laster ist also volle Pulle ins Feld gerast. Über die Böschung gehoppelt und dann war da der Fluitbach. Und weil das die letzten Tage so richtig fett geregnet hatte, war darin verdammt viel Wasser. Nachdem der LKW sich einmal überschlagen hat, ist der sozusagen mit der Nase im Wasser gelandet. Wir haben natürlich ein bisschen gebraucht, ehe wir aus den Autos raus und da hingerannt waren. Im Stockdunkeln. Aber die Käthe hat uns mit der Smartphone-Taschenlampe den Weg geleuchtet. Bis zu dem LKW, kopfüber im Bach. Das komplette Fahrerhaus unter Wasser. Wir haben noch versucht, da ranzukommen. Der Jan ist echt ins Wasser gestiegen, obwohl man doch rein gar nichts sehen konnte und den Wagen nur mit schwerem Gerät hätte bergen und öffnen können. Plötzlich hat die Käthe wie am Spieß geschrien, bis der Jan ihr einen tüchtigen Schwall Wasser ins Gesicht gespritzt hat. Wir anderen haben gar kein Wort rausgekriegt vor Schreck. Wir haben uns angeguckt und schließlich hat Ricky gesagt: »Scheiße. Was erzählen wir bloß der Polizei?«
Dazu wussten wir schon gar nichts zu sagen.
Bis der Jan gemeint hat: »Wieso Polizei? Von dem Unfall hat doch keiner was mitgekriegt. Und uns hat niemand gesehen. Und dem Manni ist eh nicht mehr zu helfen.«
Und das haben wir eine Weile sacken lassen, haben uns umgeguckt, sind zu den Autos und weg.
Seitdem denke ich darüber nach, dass der Manni an dem Tag die Tour über die andere Rheinseite gefahren war. Also die Günnekant runter bis Köln, danach über die A 1 und A 59 nach Grevenbroich und weiter hoch. Das heißt, er war die Strecke von Korschenbroich nach Düsseldorf an dem Tag nicht gefahren und konnte nicht wissen, dass sie die L 283 an der Stelle neu asphaltiert hatten. Wir anderen wussten es aber. Und als der Manni uns von dem Seitenspurassistenten erzählt und die Strecke vorgeschlagen hat, da hätten wir es ihm sagen können.
Hat aber keiner.
Warum wohl?
Königswette
Wir hatten gewettet. Wer von uns es weiter über den Rhein schaffte. Natürlich wusste ich, dass es saugefährlich war. Deswegen hatte ich ja gerade gewettet – und das Beiboot organisiert. Ich wollte, dass er kapiert, was er sich da vorgenommen hatte. Immerhin war Lars, der es fuhr, nicht ganz so besoffen wie Leander, aber immer noch deutlich mehr als ich. Das wurde mir spätestens in dem Moment ziemlich übel bewusst, als ich nach kaum einem Drittel der Strecke schlappmachte und Lars das verabredete Zeichen gab: Peace, Bruder. Ein V mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger, die ich mit letzter Kraft aus dem Wasser streckte. Der Dödel winkte fahrig zurück, grinste blöd, beugte sich über die Reling, erbrach sich und fiel seinem Verdauungsgut gleich hinterher. Der Wellengang war wohl zu viel für ihn gewesen. Immerhin schaffte er es, sich an der Bordwand festzuklammern.
Diese Strömung! Man kann sich gar nicht vorstellen, was da für Kräfte an einem ziehen! Es riss mich immer weiter weg. Ich kämpfte darum, den Kopf über Wasser zu halten. »Lars, du Arsch!«, schrie ich. Aber erstens war es sowieso für den Arsch, und zweitens machte es alles nur noch schlimmer, weil das Brüllen mich viel Kraft kostete. Was für eine idiotische Idee zu glauben, es bis ans andere Ufer zu schaffen! Für mich gab es jetzt ein einziges Ziel: in der Nähe des Bootes zu bleiben, dessen Motor ausgesetzt hatte, sodass es mitsamt seinem Bootsführer flott flussabwärts trieb. Und Leander? Als wenn ich mich in dieser Lage um den hätte kümmern können!
*
Gewettet hatten wir von klein auf. Lars und ich. Eigentlich war das Erwins Schuld. Lars lernte Erwin erst nach der Grenzöffnung kennen. Bis dahin hatte es immer geheißen: »Frag nicht.« Über die Großeltern erfuhr er immerhin, dass er ein Mitbringsel von der Abschlussfahrt seiner Mutter nach Berlin war. Zehnte Klasse. Nach einer Lehre als Verkäuferin ließ sie sich vom Abteilungsleiter schwängern, heiratete und zog bei den Großeltern aus. Der Stiefvater adoptierte Lars, und als der schon fast vergessen hatte, dass er mal unter einem anderen Namen firmiert hatte, saß ein fremder Mann am Küchentisch und seine Mutter sagte: »Gib deinem Vater die Hand.«
Erwin hatte in Ost-Berlin Schlosser gelernt, war über eine Leiharbeitsfirma an eine Duisburger Werft gekommen und holte Lars am Wochenende zu Ausflügen ab. Da Lars und ich alles zusammen machten, kam ich mit. Wir saßen auf den Rheinbuhnen, ließen flache Steine titschen, wetteten, wie oft sie auf der Wasseroberfläche auftrafen, angelten, wetteten, welcher Art und wie schwer der Fisch war, der anbiss, stromerten mit Metallsonden am Ufer und auf dem Gelände hinter der Werft herum und wetteten, sobald sie anschlugen, worum es sich handelte. Abenteuer pur.
Dabei nahm uns Erwin gleich doppelt aus: Wir verloren einen Großteil unseres Taschengelds beim Wetten. Und waren billige Arbeitskräfte: Er sammelte Metallschrott, den er vertickte. Auch der Fischfang landete komplett in seiner Kühltasche, weil es ja seine Angeln und Detektoren waren. Uns war das herzlich egal.
Am Tag nach der Abifeier klingelte es bei mir Sturm. Ich öffnete die Tür meines Einliegerappartements und bat Lars in die Küche, wo ich zwei Flaschen Alt und einen Eisbeutel aus dem Kühlschrank klaubte