Was deine Angst dir sagen will. Andreas Winter
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Kein Holz, keine Kommode, kein Abschluss! Das Zögern des Auszubildenden ist bei Weitem keine Seltenheit in unserer Gesellschaft und hat sogar einen Namen: Prokrastination (Aufschieberitis) – eine Form von Perfektionismus, die Jörg nun beinahe seinen Arbeitsplatz kostete. Perfektionismus ist nicht etwa ein hoher Qualitätsanspruch, sondern die Angst, Fehler zu machen.
All diese Fallgeschichten haben eines gemeinsam: Es ist die erlernte Angst, oder genauer, der Versuch, eine bedrohliche Situation zu vermeiden. Ein in der Kindheit erlebter Stress ist die dahinterliegende Ursache dieser Angst.
Mit der Aufdeckung der Ursache beginnt auch die Umformung. Man muss allerdings genau an den Datenspeicher im Gehirn herankommen, in welchem die Ängste entstanden sind: die Emotionen. Das ist aufwendig und geht nicht immer schnell. Doch der Aufwand lohnt sich: Dass Ed nun ohne Schwitzen Vorträge hält, Marta Spinnen sogar nach draußen bringt, Ines mittlerweile wieder Auto fährt und Jörg rechtzeitig seine Aufgaben erledigt, spricht für sich und sollte Ihnen Hoffnung machen!
Das Besondere an der Angst ist nämlich, dass sie nur dann Macht über Sie hat, also Ihr Verhalten steuert, wenn sie im Unbewussten wirken kann. Sobald die genauen Angstauslöser bewusst sind, haben sie keinen Einfluss mehr auf das, was Sie tun oder fühlen. Mein langjähriger Freund und Mitarbeiter Darius Sobhan-Sarbandi formulierte es folgendermaßen, als wir einmal miteinander über Angst philosophierten:
Hast Du die Angst oder hat die Angst Dich?
Damit wird deutlich, dass der Besitzer einer Angst diese folgerichtig auch wieder loswerden kann – ein neuer Gedanke! Bislang glaubte man nämlich, man wäre seinen Ängsten ausgeliefert und könne nur mit extremer Disziplin oder Beruhigungsmitteln etwas dagegen tun. Aber brauchten Sie Disziplin, um Ihre Angst zu entwickeln? Nein! Und Angst lässt sich wie eine „Seifenblase zum Platzen“ bringen. Das genau ist es, wozu Ihnen dieses Buch verhelfen soll!
Mit einem kleinen Beispiel sei das verdeutlicht. Es handelt von Klaus, dem Klaustrophobiker aus meinem Buch „Heilen ohne Medikamente“: Klaus suchte mich auf, nachdem er als Erwachsener Angst vor Aufzügen entwickelte. In einer ersten Ursachenanalyse fiel ihm ein, dass er als Vierjähriger zusammen mit seinem Freund beim Spielen auf einer Baustelle in einem Erdloch verschüttet wurde. Dort bekam er – im Gegensatz zu seinem Freund – einen Panikanfall. Der Grund, warum das für ihn so unerträglich war, lag weiter zurück: Seine Geburt dauerte sehr lang, sodass er dabei fast gestorben wäre.
Wenn einem Klaustrophobiker bewusst wird, dass ein Geburtstrauma die Kriterien eng, dauert lange, ist lebensgefährlich, kann nicht kontrolliert werden und Licht oder Weite rettet lieferte, die er auf den Fahrstuhl übertragen hat, dann wird damit schlagartig klar, dass es nicht der Aufzug war, sondern die Geburt, die ihn bei Sauerstoffnot stresste.
Klaus verlor seine Angst innerhalb weniger Minuten durch meinen Hinweis, dass seine Klaustrophobie nur eine emotionale Erinnerung an ein Trauma darstellt, um ihn vor einer Wiederholung des Geburtstraumas zu warnen. Die Geburt kann sich aber nicht wiederholen, und der Aufzug stellt keine größere Gefahr dar als eine Treppe. Durch diese Information wird der Ursprung des Angstgefühls in unser rationales Bewusstsein gehoben, und damit kann die Angst verschwinden. Sie kehrt dann auch nicht mehr zurück.
Wir fuhren anschließend zum Test in einem klapprigen Lift mit flackernder Beleuchtung fünf Stockwerke auf und ab, doch Klaus lachte nur noch befreit. Sich bewusst zu machen, dass nicht nur ein Aufzug, sondern auch eine Treppe, ein Gehweg oder sogar die eigenen vier Wände gefährlich sein können, führt im Gehirn zu der Erkenntnis, dass Angst unwirtschaftlich ist. Die Psyche kann gar nicht anders, als auf das Angstmuster zu verzichten, sobald ihrer Wirksamkeit der Boden entzogen ist.
Ein brandaktuelles Beispiel habe ich vor wenigen Tagen in meinem Institut erlebt. Während der fünftägigen Ausbildung zum Coach demonstrierte ich den Teilnehmern, wie man über eine 15 Meter hohe Balkonbrüstung balanciert. Ich ging über den schmalen Steg und schaute nicht einmal auf meine Schritte, weit unter mir die Straße und die Autos, klein wie Spielzeug. Heike, einer jungen Frau aus Hamburg aus meinem Kurs, stockte fast der Atem, sie bekam Angstschweiß und Unruhegefühle – allein beim Zusehen durchs Fenster. Doch nach circa 15 Minuten ging sie selbst beherzt und lachend über die Balkonbrüstung, nachdem ihr in einer kleinen Hypnose klar geworden war, dass ihre Angst mit den Ängsten ihrer Mutter zu tun hatte – die ist nämlich als Baby aus dem Kinderwagen gefallen und hat die Tochter stets überbehütet behandelt und vor Höhe gewarnt. So versteckt und dennoch so logisch können Angstursachen sein.
Ein älteres Beispiel stammt aus einem meiner Vorträge, den ich mehrmals in meiner Wahlheimat Iserlohn gehalten habe. Dort wollte ich vor versammeltem Publikum mit einem Freiwilligen demonstrieren, wie ich eine Höhenangst auflöse. Karl-Heinz, ein Mann Anfang 60, meldete sich spontan. Seine Angst, die er seit dem zehnten Lebensjahr hatte, störte ihn enorm. Er musste auf Reisen mit seiner Frau oft bei Ausflügen auf Aussichtsplattformen und sogar beim Eiffelturm einfach passen und fühlte sich natürlich dabei wie ein Spielverderber. Nach vier Wochen schickte er mir ein Handyfoto aus einem 48 Meter hohen Riesenrad, das er selbst aufgenommen hatte. Seine Höhenangst war nach einer kleinen Reflexion im Anschluss an meinen Vortrag vor hundert Menschen verschwunden, und das innerhalb von weniger als 20 Minuten. So einfach kann das sein.
Ein physikalisches Gesetz macht den Ansatz zur Angstfreiheit zuverlässig. Es ist das Gesetz des geringsten Widerstandes. Es besagt, dass sich jedes Potenzial auszugleichen versucht, und zwar möglichst ohne Kraftaufwand und Energieverlust. Strom fließt stets durch die Leitung mit dem geringsten Widerstand. Wasser fließt nur einen Berg hoch, wenn eine Staumauer oder ein Unterdruck verhindert, dass es bergab fließen kann.
Genauso verhält sich auch unser Gehirn. Es fällt seine Entscheidungen in Bruchteilen von Sekunden, immer nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes. Nun kommt es nur noch darauf an, was man als den geringsten Widerstand bezeichnet. Für den einen sind Spielregeln hilfreich, für den anderen sind sie Bevormundung. Der eine mag die Nachfrage nach dem Befinden, der andere empfindet dies als Einmischung oder Heuchelei. Der eine braucht Risiko und Herausforderung, der andere stirbt dabei fast vor Furcht. Wenn man ganz genau weiß, was der subjektiv empfundene Widerstand eines jeden Einzelnen ist, dann hat man den Hebel, mit dem man die Angst besiegen kann!
Der Algorithmus der Psyche
Den Algorithmus der Psyche habe ich einmal die Formel genannt, die unser Bestreben bestimmt. Sie lautet:
Die eigene Absicht widerstandsfrei verwirklichen.
Einfacher: Jeder Mensch will seine Bedürfnisse ohne weiteren Stress befriedigen. Wer müde ist, wird schlafen, es sei denn, das Bett brennt. Wer Appetit hat, wird essen, es sei denn, das schlechte Gewissen hat es ihm verboten. Niemand will, dass man sich in seine Absicht einmischt. Wenn Sie einem Kind sagen, dass es ins Bett gehen soll, wird es sich nicht für den guten Tipp bedanken, sondern sich über Sie ärgern – selbst wenn es sinnvoll wäre, ins Bett zu gehen. Es geht also immer darum, dass wir selbst entscheiden wollen, welchen Weg wir zu unserem Ziel einschlagen.
Jedes der drei Elemente der oben genannten Formel – eigene Absicht, widerstandsfrei, verwirklichen – hat eine eigene Größe, die gegen unendlich geht und nie gegen null gehen darf. Ist die Absicht verwirklicht, herrscht für einen Augenblick ein Zustand der Bedürfnislosigkeit.
Alle streben danach, die eigenen Absichten zu verwirklichen. Wir nehmen unglaubliches Leid in Kauf, nur weil wir den leichteren Weg zur Bedürfnislosigkeit