Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Annette Stechmann
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Es gibt Behinderungen, mit denen ein Mensch leben kann, sogar gut leben kann. Aber es gibt auch Behinderungen, die so stark sind, dass klar ist, dass das Kind nur kurze Zeit leben wird. Darüber hinaus gibt es Abweichungen vom „Normmaß des Menschen“, das in einer Gesellschaft des Designs von Frauen verlangt, ein „perfektes Kind“ bzw. ein „Kind nach Maß“45 hervorzubringen.
Es gibt die Bestrebung in Kliniken, Schwangerschaften, bei denen die Entscheidung für eine Abtreibung gefallen ist, möglichst schnell zu beenden, um dem Kind bei der Abtreibung Schmerzen zu ersparen46, um die Eltern nicht länger zu zwingen, ein Kind auszutragen, das – nach gängiger Meinung – sowieso nicht am Leben bleiben sollte oder ein Kind auszutragen, das mit der Geburt zum Sterben verurteilt ist.
Hier wird vergessen, dass diese kleinen Wesen erwünschte, geliebte Kinder sind. Hier wird vergessen, dass es vielleicht auch noch andere Möglichkeiten des Umgangs mit diesen kleinen Menschen gibt, die evtl. nicht lebensfähig sind, dass z.B. Palliative Care für Ungeborene und ihre Familien eine Möglichkeit wäre, den Sterbeprozess nicht aufzuhalten, aber eben auch nicht zu beschleunigen. Diese Möglichkeiten würden bedeuten, den wenigen Tagen, die es gibt, mehr Leben zu geben – so wie es Cicely Saunders für die Begleitung Schwerstkranker und Sterbender formuliert hat: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“47
Eltern leiden darunter, dass sie in einer solch prekären Situation, in der es wenige Maßstäbe gibt, die ihnen in solchen Entscheidungssituationen Hilfe anbieten, entscheiden müssen, was mit ihrem Kind geschehen soll. Wonach sollen sie sich richten? Die meisten Menschen, die ich kennengelernt habe, haben sich die Entscheidung nicht leichtgemacht. Sie wussten, dass es sich um ein Kind handelt, um ihr Kind. Entsprechend groß ist die Trauer. Die Frage wird laut: „Wieso ist mein Kind krank gewesen?“ – und die Schuldfrage wird natürlich auch gestellt. Aber all das hilft nicht, wenn eine Entscheidung gefällt werden muss. Die meisten Menschen entscheiden sich – theologisch interpretiert – nach dem Prinzip „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Sie entscheiden sich aus Liebe zu ihrem Kind für einen späten Abbruch: „Damit es nicht so leiden muss“, damit ihm ein Ersticken erspart bleibt usw. Der Abbruch kann aber auch begründet sein in der je eigenen Person von Mutter oder Vater. Sie entscheiden sich auch für sich: „Ich traue mir das nicht zu“.
2.10 Resümee: Es fehlt das richtige Wort
Was fehlt, ist das tröstende, erlösende Wort, das ich diesen Eltern als Christin sagen kann. Es ist die Frage nach dem Weg zwischen den beiden Straßengräben des Fundamentalismus und der Aufgabe jeglichen christlichen Standpunktes.
Welche Worte, welche christlichen Worte sind diesen Menschen zu sagen? Gibt es nicht etwas, dass das Christentum an dieser Stelle hilfreich den Eltern sagen könnte – neben der Haltung, die die humanistische Gesprächspsychologie zu Recht postuliert? Wie kann ein Qualitätskriterium christlicher Gottesrede aussehen, das den Eltern mehr hilft als alle wohlmeinenden, authentischen, respektierenden Worte? Gibt es so etwas wie ein Disclosure–Erlebnis durch christliche Aussagen?
Etwas, das Eltern in ihrer Trauer ernst nimmt und trotzdem den Himmel in dieser Situation aufschließt?
Die Theorie von Carl Rogers (vgl. 2.4) ist sicherlich die Basis für seelsorgliche Gespräche in Bezug auf Verbalisierung der Empathie, der Authentizität und dem Respekt vor dem anderen – auch für Gespräche mit Frauen, deren Kinder gestorben sind. Auch bei unseren Trauergesprächen versuchen wir, authentisch aufzutreten, den Frauen Raum zu geben. Es ist unser Ziel, ihnen zu ermöglichen, das, was ihnen geschehen ist, zu verbalisieren – ihre Trauer, ihre Hoffnung, ihre Wut. Auch in der Verkündigung während der Bestattung achten wir darauf, dass, obwohl meistens wir selbst reden, die Frauen selbst vorkommen können, indem wir Wortfetzen aufnehmen oder zusammenfassend schildern, was ihnen geschehen ist. So haben sie auch im Gottesdienst einen Platz.
Schon allein durch diese Art der Verkündigung wird etwas von einem mitgehenden, vorsichtig begleitenden, raumgebenden Gott deutlich. Trotzdem habe ich als katholische Seelsorgerin die Not, den Gottesdienst in der Kapelle (s.o.) zu gestalten. In der Verkündigung prallt aufeinander, was ich oben geschildert habe: Ein christlicher Raum, der den meisten Personen, die zur Bestattung kommen, fremd ist; Menschen in tiefster Trauer, die genau das brauchen, was christliche Seelsorge anbieten kann, aber auch die Frage nach dem Leid dieser Menschen und Gott als Allmächtigen, die Kooperation mit Vereinen, die sich dieser Frauen auch begleitend annehmen, aber nicht religiös verankert sind. Hinzu kommen die fehlende religiöse Sozialisation dieser trauernden Menschen und die Durchführung der Bestattung durch christliche Institutionen. Die Verlockung an dieser Stelle ist, sich dem Gefühl der Fremdheit zu ergeben und auch nichts Christliches mehr zu sagen. Aber dann bin ich nicht authentisch oder ich werde fundamentalistisch und versuche Eltern in dieser verwundbaren Situation zu missionieren. Dass sich beides verbietet, dürfte klar sein.
Genauso wenig reicht es, aus Bibel und Tradition Perlen des Trostes der Vergangenheit anzubieten und zu hoffen, dass sie genau dieselbe erlösende Weitung entwickeln wie in der Vergangenheit. Lösungen von damals sind nicht notwendig die richtigen Lösungen für heute. Allerdings ist spannend herauszufinden, wie die Lösungen damals entstanden sind, denn sie sind Lösungen gewesen. Vielleicht hilft ja die Folie, auf der sie entstanden sind, auch im Hier und Jetzt?
12 (Flick, Qualitative Sozialforschung, 23): „Forschung ist dadurch in stärkerem Maß auf induktive Vorgehensweisen verwiesen: Statt von Theorien und ihrer Überprüfung auszugehen, erfordert die Annäherung an zu untersuchende Zusammenhänge ‚sensibilisierende Konzepte’, in die – entgegen einem verbreiteten Missverständnis – durchaus theoretisches Vorwissen einfließt.“
13 „Ich nehme Pauline als meine Tochter an, die leider nicht bei mir sein kann. Ich behalte sie so in Erinnerung, wie ich sie damals gesehen habe. Sie ist jetzt im Himmel, ich bin trotzdem ihre Mutter und ich spüre ganz deutlich, sie ist trotzdem mein Kind. Das Kind, das ich sehr lieb habe.“ (Hiemer, Erfahrung einer Mutter nach einer Fehlgeburt, 15).
14 Kathrin, Hitlist (!) der Sprüche, die man nach einer Fehlgeburt nicht hören will.
15 Vgl. Keul, Wo die Sprache zerbricht.
16 Keul, Wo die Sprache zerbricht, 9.
17 Keul, Wo die Sprache zerbricht, 10.
18 An Carl Rogers ist mit seinen Untersuchungen zur Gesprächspsychotherapie und den daraus entstehenden Konsequenzen für helfende Gespräche nicht vorbeizukommen. Seine Konzeption ist die Basis auch professioneller seelsorglicher Gespräche. Dabei müssen die drei Punkte „1. die Echtheit oder Kongruenz des Therapeuten, 2. das vollständige und bedingungsfreie Akzeptieren des Klienten seitens des Therapeuten und 3. ein sensibles und präzises einfühlendes Verstehen des Klienten seitens des Therapeuten“ (Rogers, Therapeut und Klient, 19f.) im Gleichgewicht gehalten werden. Wenn diese ausgewogene Theorie verkürzt angewendet wird, dann verkommt die Seelsorge zu einem bloßen „Spiegeln“ der Empfindungen von Menschen, zu eventuell nicht authentischer Warmherzigkeit, und bleibt unter dem Niveau, das sie haben könnte – ein Wort zu sagen, das dem anderen den Himmel aufschließt und wirklich tröstet. Der Punkt der „Kongruenz“ bzw. der Authentizität ist sehr wichtig. Wenn z.B. ein/e christliche/r Begleiter/in einen anderen Menschen begleitet, muss deutlich werden, wer er/sie ist. Ein/e christliche/r Begleiter/in stellt sich immer mit seiner/ihrer Theologie, seinem/ihrem Glauben, seinem/ihrem Hoffen und Bangen an die Seite des Menschen, dem er/sie wertschätzend gegenübertritt. Gerade sein/ihr Glauben ermöglicht es, dem anderen so absichtslos wie nur irgendwie möglich gegenüber zu treten, denn nach christlicher Überzeugung hat Gott jeden einzelnen Menschen geschaffen. Wenn ein/e christliche/r Begleiter/in