Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Annette Stechmann
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Der Tod von Kindern bevor sie geboren worden sind, ist etwas, das Menschen emotional bis ans Äußerste herausgefordert, sodass es zu solchen Reaktionen der Abwertung kommt. Manches ist vielleicht noch nicht einmal böse gemeint, sondern einfach sehr ungeschickt geäußert. Manche Menschen lässt dieser Tod aber vielleicht wirklich kalt. Er bedeutet ihnen nichts, weil ja noch nichts gewesen sei.
In jedem Fall lässt sich feststellen, dass der Tod von Kindern zu Stellungnahmen herausfordert – sowohl bei Außenstehenden als auch bei den Müttern, Vätern und allen anderen Familienangehörigen.
2.4 Verstummen – Worte finden
Am Anfang meiner Bestattungspraxis habe ich gemerkt, wie mir die Worte im Mund stecken geblieben sind. Was habe ich solchen Frauen zu sagen? Was habe ich ihnen von Gott zu sagen? Dass er mitgeht und tröstet? Dass er die Kinder aufnimmt (so wie häufig das Evangelium von der Aufnahme der Kinder durch Jesus bei Kinderbestattungen gelesen wird)?
Aber da fängt es schon an, schwierig zu werden: Wer ist dieser Gott, der diese Kinder aufnimmt? Wenn er sagt „lasset die Kinder zu mir kommen“ meint er dann auch, dass er sie so gerne bei sich hat, dass er sie ihren Eltern wegnimmt? Nicht selten habe ich solche Assoziationen von Eltern gehört. Ja, ist er denn verantwortlich für das Sterben dieser wirklich ganz und gar unschuldigen Kinder, die mit dieser Unschuldigkeit auch jeglichen Tun–Ergehens–Zusammenhang zwischen Schuld und Tod aufheben? Ist er schuld an ihrem Tod? Wie kann eine Mutter einem Gott, der schuld ist am Tod ihres Kindes, ihr Kind anvertrauen?
Sehr schnell stand ich vor dieser Frage, die mich daran gehindert hat, leichtfertig davon zu reden, dass Gott diese Kinder aufnimmt. Aber was kann ich diesen Eltern dann noch sagen? Habe ich ihnen als Theologin überhaupt etwas zu sagen? Natürlich gibt es auch eine persönliche Überzeugung bei mir, die sagt, dass Gott nicht so (punktuell) in die Welt eingreift, dass Allmacht etwas Anderes ist als „Fügung“, dass er doch der Gekreuzigte ist und als solcher ein Mitleidender im Leid dieser Eltern. Aber die Rede davon hat diese Eltern nicht erreicht. Im Gegenteil: Sie blieben stumm bei den Bestattungen. Sie weinten noch nicht einmal. So verstummte auch ich mit dieser Botschaft von Kreuz und Auferstehung.
Es stellte sich die Frage, was nun zu tun war. In der Praxis der Bestattungen habe ich mich in der Folgezeit an die Seite dieser Eltern gestellt: Ich habe ihre Wut auf diesen und ihre Angst vor diesem Gott aufgenommen und versucht, sie zu verbalisieren. Ich habe die Eltern Kerzen anzünden lassen: Kerzen ihrer Hoffnung, ihrer Liebe für diese Kinder – und habe sie diese Kerzen zum Sarg in der Kapelle stellen lassen. Ich habe ihnen Raum gegeben, das, was an Trauer, Wut, Hoffnung und Liebe da ist, zu verbalisieren und zu symbolisieren. Dieses Ritual empfanden die Eltern als gut. Sie waren dankbar, dass sie Raum bekommen hatten für das, was sie bewegte.
Aber was habe ich mit diesem Ritual vom christlichen Gott gesagt? Diese Bestattung war bestimmt „gut“ – und trotzdem ließ mich die Frage nicht los, ob es nicht etwas gibt, was ich als Theologin sagen könnte. Hildegund Keul hat sich mit dem Zerbrechen von Sprache und der schöpferischen Macht der Gottesrede auseinandergesetzt15: „Die christliche Rede von Gott setzt bei solchen Erfahrungen der Sprachlosigkeit an.“16 Ich begann Gottesmetaphern zu suchen, denn ich las bei ihr:
„Das Versagen von Sprache in Gottesfragen fordert zur Auseinandersetzung mit Metaphern heraus. Denn die Metapher ist eine Sprachform, die genau hier ansetzt. Sie dient dem Überschreiten von Sprache durch Sprache. […] Denn in den Gottesmetaphern kommt das zur Wort, was alle Worte übersteigt und letztlich unsagbar ist: das Geheimnis des Lebens, das sich in dessen Zerbrechlichkeit offenbart.“17
Ich begann nach solchen Metaphern zu suchen, stieß aber auf eine weitere Schwierigkeit: Fast keiner dieser jungen Menschen wusste etwas vom christlichen Gott bzw. konnte etwas mit Metaphern anfangen, die ich in dieser Situation fand, einfach, weil das Verständnis der Welt ein ganz anderes ist. Es gibt kaum noch christlich–religiöse Prägung in Göttingen – fast keine/r kann z.B. das Vaterunser beten, keine/r weiß, was ein Segen ist. Wir haben auch muslimische Eltern dabei oder Buddhisten oder Menschen, die an heidnische Gottheiten glauben. Ich war also konfrontiert mit Menschen, die nicht christlich sind – hatte ich das Recht, nur weil ich die Bestattung als Christin und Seelsorgerin durchführte, sie in ein christliches Konzept von Bestattung zu pressen? Wozu habe ich hier überhaupt ein Recht? Darüber hinaus stellt sich nicht nur die Frage, ob ich das Recht habe, von dem Gott zu sprechen, an den ich glaube, weil ich der Bestattung vorstehe, sondern auch, ob ich dazu nicht sogar verpflichtet bin? Aber wie sollte ich es tun, wenn mir die Sprache von ihm angesichts des Leids dieser Eltern zwischen den Fingern zerbröselte?
Das waren Fragen, die sich mir immer lauter stellten.
Ich erkannte, dass Sprachlosigkeit Sensibilität für Begriffe schafft. Meine Sprachlosigkeit führte dazu, dass das, was ich einst als Gesprächsführung – aufbauend auf humanistischer Gesprächspsychologie18 – als Spiegelung rein verbaler Sprache sehr vereinfacht gelernt hatte, für mich an eine Grenze kam. Ich hatte es mit Sprachlosigkeit bei Trauernden, mit Wortlosigkeit bei mir und ihnen zu tun. Ich merkte, dass diese Sprachlosigkeit mir half, die Menschen genauer in den Blick zu nehmen. Ich erkannte die Sprachlosigkeit als Weg zu diesen Menschen und hielt sie nicht mit Worten doch auf eine bestimmte Art und Weise auf Distanz.
Rogers als Hauptvertreter der humanistischen Gesprächspsychologie wehrt sich zutiefst gegen die Verengung seiner Methodik, wie ich sie als seinen Ansatz gelernt hatte. Er schlägt für Berater ein „Sensivitätstraining“19 vor:
„das befähigt zu feinfühligerem Zuhören, dazu, mehr von dem unterschwelligen Sinngehalt zu erfassen, den der andere mit Worten, Gebärden und Körperhaltung ausdrückt, gibt die Möglichkeit von innen heraus intensiver so wie auch freier auf die Bedeutung des jeweils Geäußerten zu reagieren“20.
Rogers bedenkt, wie sich gezeigt hat, durchaus auch die nonverbale Kommunikation. So empört er sich in der Fußnote zu dieser Textstelle und schreibt:
„Ich kann nur hoffen, daß die oben erfolgte Darstellung des Einfühlungsvermögens als therapeutische Haltung endlich ausreichend meinen Standpunkt verdeutlicht, wonach ich keineswegs eine hölzerne Technik des Pseudoverstehens befürworte, bei welcher der Berater lediglich ,widerspiegelt, was sein Klient soeben gesagt hat’. Die Ausdeutungen meines Ansatzes, wie sie sich mitunter in der Ausbildung und Fortbildung von Beratern eingeschlichen haben, muß ich aufs schärfste mißbilligen.“21
Trotzdem hat das, womit ich zu tun hatte, mit etwas Anderem zu tun. Ich wusste, dass Worte nicht alles sind, dass Schweigen oder Tränen an dieser Stelle mehr sagen können als Worte. Aber ich hatte nichts mehr zu sagen angesichts der Widersprüche von Transzendenz und Immanenz, dass die Liebe von Eltern nicht ausgereicht hat, menschgewordene Liebe zu gebären. Jedes vorschnelle Wort von einem Gott, der das Leben für diese Kinder will, dass er ihnen Zukunft schenkt, wo sie ja bei ihren Eltern keine haben konnten (wer hat es ihnen denn genommen?) von Leben und Tod – von einem Leben, das zu Ende war, bevor es geboren wurde, verbot sich mir, als mir diese Frauen und Männer ans Herz rückten.
Damit wurde deutlich, dass die humanistische Gesprächspsychologie, auch in ihrer Nicht–Engführung, hier nur bedingt weiterhilft, obwohl ich wusste, was ich zu tun hatte, weil hier auf einmal theologische Grundsatzfragen im Raum standen, auf die ich keine Antwort hatte, auf die ich angesichts der Grausamkeit dessen, was Eltern erlebt hatten, nicht einfach irgendwelche theologischen Lösungen anbieten konnte, auch nicht in Form von Metaphern, aber auch nicht in philosophischen