Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Annette Stechmann
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Ich wusste nicht, was mich bei dieser Bestattung erwarten würde. Ich wusste nicht, ob ich den Bedürfnissen der Trauernden gewachsen sein würde. So recherchierte ich etwas hilflos im Internet nach Erfahrungswerten und Bedürfnissen dieser Frauen. Ich erfuhr, welche (religiösen) Worte verwaiste Frauen mehr verletzen als dass sie ihnen helfen. Ich wollte helfen, ich wollte Hoffnung schenken. Gleichzeitig hatte ich keine Idee davon, was trösten kann, was helfen kann. Ich merkte, wie schwierig es für mich war, zu Worten zu kommen.
Schon nach dieser ersten Beerdigung, wo ich weinende Männer und Frauen vor mir sah, ich aber nichts von ihnen wusste außer dem äußeren Eckdatum, dass sie Eltern eines Kindes geworden waren, das tot geboren wurde, wusste ich, dass ich mehr von ihnen wissen musste, um ihnen etwas sagen zu können. Deshalb entwickelten wir im Team das Beerdigungsformat weiter: Es sollte nun ein Trauergespräch eine Woche vor der Bestattung geben, damit die Eltern uns ihre Geschichten erzählen konnten, damit sie auch voneinander wussten, damit sie sich kennenlernen konnten. Seitdem findet dieser Abend regelmäßig statt. Er gehört bis heute zu den größten Herausforderungen, die ich in meiner pastoralen Tätigkeit als Klinikseelsorgerin erlebe.
Erst durch diese Trauergespräche erfuhr ich, dass auch Eltern abgetriebener, auch spät abgetriebener Kinder zu der Bestattung kommen. Das war eine weitere Herausforderung für mich. Ich wollte nicht als überzeugte Abtreibungsgegnerin und an dieser Stelle als Vertreterin der katholischen Kirche der Tötung von Kindern Gottes Segen geben. Das widerstrebte mir. Aber ich lernte die Trauer dieser Eltern kennen und ich wusste natürlich auch, dass auch die abgetriebenen Kinder genauso Geschöpfe Gottes sind wie jedes andere Kind. Wer Mensch ist, hat auch ein Recht auf eine Bestattung.
Das Interesse an den Frauen und ihrer Geschichte hat sich in mir verdichtet zu einer noch größeren Frage, nämlich wie die Frauen das ihnen Geschehene deuten, denn manchmal hatte ich das Gefühl, dass Frauen wütend waren, auch eventuell auf mich – und ich verstand nicht genau, warum.
Auch entstand in mir der Eindruck, dass es zwar schön war, dass ich etwas sagte, aber dass ich immer messerscharf an diesen Frauen vorbei sprach. Dieser Eindruck motivierte mich, diese Frauen genauer kennenlernen zu wollen. So wuchs in mir das Interesse daran, genauer zu wissen, wie die Frauen diese Situation selbst deuten.
2.1 Eine alte Friedhofskapelle – viele junge Menschen
Die Kapelle, in der die Bestattungen in Göttingen stattfinden, ist eine schöne, alte Friedhofskapelle. Christlich versteht sich, lutherisch – zumal sie auf einem Friedhof steht, der der ev.–luth. Kirchengemeinde St. Petri gehört. Die Bestattungen finden nicht in der großen Kirche, gleich an der Straße, in der sich so manch kleinere Trauergemeinde verlieren würde, statt, sondern in einer kleinen Kapelle, in der ca. 50 Menschen Platz finden. Diese Kapelle steht mitten auf dem Friedhof. Sie ist das zu Stein gewordene Bekenntnis, dass es für die Toten einen Ort im Himmel gibt. Direkt neben der Kapelle liegt das Kindergrabfeld. Wer in die Kapelle will, geht an kleinen Engelsfiguren, an der Regenbogenstele, an bunten Windrädern, Teddys und kleinen Namenssteinen vorbei. Eines wird sofort klar, wenn man zur Kapelle geht – hier sind Kinder bestattet. Der Eingang in die Kapelle ist mit einem biblischen Spruch versehen. So ist spätestens hier klar, dass es sich um eine christliche Kapelle handelt. An den Wänden direkt neben der Aufbahrungsmöglichkeit für den Sarg steht links geschrieben: „Fürchte dich nicht!“ und rechts „Glaube nur!“ Hier sind an zentraler Stelle zwei christlich konnotierte Imperative verewigt, die deutlich den trauernden Menschen aufrichten sollen und den Weg zum Trost zeigen wollen. Hinter der Aufbahrungsmöglichkeit für den Sarg steht ein metallenes Kreuz. Dieses bildet bei unseren Beerdigungen hinter dem kleinen weißen Kindersarg die Mitte, das Zentrum des Raumes. Dass dann noch an jedem Stuhl ein evangelisches Gesangbuch liegt, ist nur noch eine weitere Zutat, die verdeutlicht, dass es sich um einen evangelisch–christlichen Raum handelt. Die Bestattung der Kinder, die in der Schwangerschaft verstorben sind, findet auf christlichem Grund und Boden statt.
Die Menschen, die nun aber kommen, sind ganz besondere Menschen. Sie sind alle jung. Es sind Menschen, von denen man annimmt, dass ihnen noch nicht allzu viele liebe Menschen gestorben sein können, weil sie noch so jung sind. Es sind vornehmlich Frauen, häufig auch mit Partner. Manche mit Eltern oder anderen eigenen Kindern. Eine wichtige Besonderheit ist im Unterschied zu anderen Bestattungen, dass alle Teilnehmenden in intensiver Trauer da sind. Bei anderen Trauergemeinden ist der Grad der Trauer bei den Anwesenden nicht immer derselbe. Hier versammeln sich Frauen und Männer, denen nicht etwa Mutter oder Vater, sondern ein eigenes Kind gestorben ist – das eigene Kind, das bereits bei der Geburt tot war. Es sind alles Menschen, die eher selten christliche Räume betreten, denen diese Umgebung vornehmlich fremd ist.
2.2 Mütter – Väter, Geschwister – Großeltern
Diesen Müttern und Vätern begegne ich meistens zwei Mal: Beim Trauergespräch und bei der Bestattung selbst. Zum Trauergespräch kommen die Mütter und auch so mancher Vater, manchmal eine Freundin der Mutter, manchmal eine Großmutter. Die Eltern können dort, wenn sie mögen, ihre Geschichte und die ihres Kindes erzählen. Diese Gelegenheit wird genutzt. Es ist noch nie passiert, dass jemand seine Geschichte nicht erzählt hat. Wohl unterscheiden sich die Inhalte der Schilderungen als auch die Art und Weise, wie erzählt wird. Manche finden Worte, manche kriegen einfach kein Wort über die Lippen (was sie auch nicht müssen) und manche weinen auch einfach und erzählen so ohne Worte die Geschichte ihres Kindes und das unglaublich Schlimme, das ihnen widerfahren ist. Die Geschichten sind unterschiedlich: Da sind Kinder von selbst gestorben und niemand weiß, warum. Da sind Kinder echte Wunschkinder gewesen – und dann gab es die Pränataldiagnostik, die den Eltern offenbart hat, dass ihr Kind zu krank ist, um leben zu können – oder dass das Kind zwar behindert ist, aber eigentlich lebensfähig ist. Eltern erzählen davon, dass sie entscheiden mussten. Dass es keine Möglichkeit gibt, sich nicht zu entscheiden. Wie schwierig solche Entscheidungen sind – und sie erzählen von ihren inneren Kämpfen und von dem, was ihnen geholfen hat, zu einer Entscheidung zu kommen. Ein häufig genannter Grund für eine Abtreibung ist der Zeitdruck, unter dem Entscheidungen getroffen werden „müssen“. Ein weiterer Grund ist das Gefühl, es mit einem behinderten Kind nicht schaffen zu können. Es sei heutzutage sehr ungewöhnlich, ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen. Als häufigster Grund wird die Liebe zum Kind genannt: Ihm eine OP nach der anderen in einem sowieso zu kurzen Leben nicht antun zu wollen, zu wissen, dass das Kind nicht lange leben wird und ihm deshalb Qualen zu ersparen. Ein weiterer genannter Grund ist der, dass es sowieso nichts bringt, ein Kind auszutragen, nur damit es sterben kann.
Die Mütter haben körperlich die größte Nähe zu ihren Kindern und sind damit auch emotional stark involviert, wenn diese – egal aus welchem Grund – so früh sterben. Für sie sind es konkrete Kinder13. Manchmal haben sie schon geahnt, dass sie schwanger sind, bevor der Test oder der Frauenarzt dieses bestätigt haben. Sie haben schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft große körperliche Veränderungen an sich festgestellt: Müdigkeit, Übelkeit, einen Energiepunkt im unteren Bauch oder Wassereinlagerungen. Viele Frauen haben den Kindern schon im Bauch Namen gegeben: Krümelchen, Pünktchen z.B. oder einen anderen Kosenamen. Sie haben angefangen, sich mit den großen Veränderungen, die ein Kind im Leben bedeutet, auseinanderzusetzen. Sie fühlen sich leer, wenn das Kind nicht mehr in ihrem Bauch ist. Manche von ihnen haben Schuldgefühle. Sie fragen sich, ob sie sich auf die falsche Toilette gesetzt haben, sodass die Bakterien, die zum Tod des Kindes geführt haben, in sie eindringen konnten. Sie fragen sich, ob sie überhaupt richtige Frauen sind, wenn sie noch nicht einmal ein gesundes Kind zur Welt bringen können, ob sie zu viel Stress hatten, ob sie sich vielleicht nicht genügend auf das Kind gefreut haben, das Kind im ersten Moment der Schwangerschaft vielleicht sogar abgelehnt haben und deshalb schuldig sind, dass das Kind nicht bei ihnen geblieben ist, weil es sich nicht willkommen gefühlt hat.
So manche Frau hat auch mit Hilfe von Kinderwunschbehandlungen versucht, schwanger zu werden. Wenn sie es dann endlich gewesen ist und dann dieses Kind stirbt, ist es unendlich schwer für sie, denn es steht die Frage im