Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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S. 375)

      In seiner Monographie Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht (Rudolf 2015b) findet sich auch ein Kapitel Der religiöse Mensch, darin u. a. die Themen Suche nach Sinn, religiöse Einstellungen, Religiosität und Spiritualität, das Angebot der Religionen (ebd., S. 120–146).

      Religiosität gilt vielen als eine im Menschen natürlich verankerte Bereitschaft, sich auf eine Transzendenz auszurichten. Sie wird gewissermaßen als Bestandteil der menschlichen Natur, als Wesensmerkmal des Menschen gesehen. Das ist eine These, die wissenschaftlich weder bestätigt noch widerlegt werden kann. […] Wie man auch dazu stehen mag, es ist unübersehbar, dass religiöse Orientierung in der Geschichte der Menschen und ihrer kulturellen Entwicklung eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt hat, sodass wir dieses Thema nicht übergehen dürfen. (ebd., S. 124)

      Bei zeitgenössischer Spiritualität beobachtet er häufig Vorstellungen und Praktiken, „die historisch zum Aberglauben gerechnet wurden.“ (ebd., S. 144) Auf subjektiver, emotional-erlebbarer Ebene sieht er eine Gemeinsamkeit:

      Das Gemeinsame von Religiosität und Spiritualität liegt wohl in der Tatsache, dass Menschen die gläubige Überzeugung entwickeln können, sich in der Beziehung zum Göttlichen zu erleben und dass diese Bezogenheit ihnen ein Gefühl der Sinnhaftigkeit und Geborgenheit vermittelt, auf das sie verzichten müssten, wenn sie ihre spirituelle oder religiöse Ausrichtung nicht mehr hätten. (ebd., S. 144) f.)

      Peter D. Gilbert bietet für das Thema Spiritualität und psychische Gesundheit einen vorsichtigen Überblick und darin eine schöne Definition: „Spirituality relates to that dimension of ourselves as human beings which erects frameworks of meaning that provide a motivating force to our lives. Spirituality is associated with the pilgrimage of life; connection with other people and the natural world; a sense of the sacred; and a reaching out to something beyond ourselves.“ (Gilbert 2007, S. 595)

      Der Psychiater und Theologe Christopher C. H. Cook (2004) schlägt in einem Überblicksartikel zu Suchterkrankungen eine Definition von Spiritualität vor, die das persönliche Innerste wie auch das ganz Andere anzielt:

      Spirituality is a distinctive, potentially creative and universal dimension of human experience arising both within the inner subjective awareness of individuals and within communities, social groups and traditions. It may be experienced as relationship with that which is intimately “inner”, immanent and personal, within the self and others, and/or as relationship with that which is wholly “other”, transcendent and beyond the self. It is experienced as being of fundamental or ultimate importance and is thus concerned with matters of meaning and purpose in life, truth and values. (ebd., S. 548 f.)

      Im Sammelband Religion and Psychiatry. Beyond Boundaries der WPA (Verhagen et al. 2010) sagen die Herausgeber im Vorwort:

      Religiosity can be considered a normal personality trait and cannot be disregarded by psychiatrists, whatever their own ideas on religiosity might be. The entire soul/psyche, after all, belongs to their sphere of work. This point of view is the raison d’être of the WPA’s section on Religion, Spirituality and Psychiatry, and the main reason why this book was conceptualised under the section’s auspices. We hope that this volume will indeed stir up curiosity and interest in the interface between psychiatry and man’s tendency to provide life with a vertical transcendental dimension. (ebd., S. xvii)

      Peter J. Verhagen bemerkt, dass religiöse bzw. spirituelle Erfahrungen und Deutungen nicht selten seien und eben nicht nur in außerordentlichen, sondern auch gewöhnlichen und alltäglichen Wahrnehmungen und Deutungen bestünden und bedeutsam seien: „Religious experiences can take ordinary forms […]. Religious experience, in other words, is a religious interpretation of ordinary, daily experiences, which are not at all rare. […] This ‚normality‘ of religious (and spiritual) experiences makes it likely that they do occur and have meaning in the lives of many psychiatric patients and their relatives as well.“ (Verhagen 2010, S. 552)

      Die Religionssoziologie untersucht empirisch unter anderem, inwiefern und wie Menschen sich als religiös bzw. spirituell einschätzen und verhalten. Angesichts eines starken Individualisierungsschubes in der Spätmoderne94 wurde Religion oft individueller, privater und schwerer erkennbar. Einflussreich wurde z. B. das Konzept der „unsichtbaren Religion“ von Thomas Luckmann95 und seine Unterscheidung von „kleinen, mittleren und großen Transzendenzen“ – wobei „Diesseitsreligionen“ auf mittleren und „Jenseitsreligionen“ auf großen Transzendenzerfahrungen basierten (vgl. Luckmann 1991, S. 166–171).96 Der Religionssoziologe Hubert Knoblauch greift diese Unterscheidungen auf und sieht Spiritualität als Ausdruck von Individualisierung und persönlicher Erfahrung hier verankert:

      Diese Tendenz, persönliche Erfahrungen der Transzendenz zu machen und darüber zu kommunizieren, hängt alltagssprachlich mit einer Ersetzung des Begriffs des Religiösen durch den des Spirituellen zusammen. Der Begriff der Spiritualität (als subjektive Sonderform des Religiösen) eignet sich durchaus auch für die Soziologie, da er zum einen auf eine als transzendent erfahrene Wirklichkeit und zugleich auf eine Distanz zu institutionell definierten Vorstellungen des Religiösen hinweist. Dies gelingt ihm, zum anderen, gerade deswegen, weil er auf die Dimension der subjektiven Erfahrung der (großen) Transzendenz rekurriert. (Knoblauch 2004, S. 78)

      Spiritualität scheine „ihre Begründung nicht im Sozialen, sondern im Subjekt selbst zu suchen. Sie bezeichnet die zunehmende Tendenz von Gesellschaftsmitgliedern, die eigene Transzendenzerfahrung als Quelle, Evidenz- und ‚Güte‘-kriterium der eigenen Religion anzusehen.“ (ebd.) Der Begriff Spiritualität werde häufig als in den eigenen Erfahrungen gründende Selbstbeschreibung verwendet und sei damit eine „Ethnokategorie der Handelnden“ (Knoblauch 2006, S. 91). Gegenüber einem inflationären Wortgebrauch durch einen ganz funktionalistischen Religionsbegriff äußert er sich jedoch skeptisch, denn dann könne „jede kulturelle Aktivität […] als religiös bezeichnet werden: Fußball, Musik etc.“ (vgl. ebd., S. 99). Er schlägt deshalb vor, als religiöse Erfahrungen solche Erfahrungen zu „bezeichnen, in denen große Transzendenzerfahrungen auf eine symbolisch außerweltliche Weise gedeutet werden“ (ebd., S. 100).

      Ein empirischer Überblick zur Religiosität in den deutschsprachigen Ländern findet sich bei Stefan Huber (2011), basierend v. a. auf dem Religionsmonitor 2008. Es zeigt sich, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung für religiöse bzw. spirituelle Semantik ansprechbar ist, speziell auch in Krisensituationen wie Krankheit (vgl. unter Abschn. 4.5.1).

      Empirische Zahlen zum Verständnis von Spiritualität und entsprechenden Selbsteinschätzungen im Vergleich von USA und Deutschland finden sich bei Barbara Keller et al., basierend u. a. auf dem Religionsmonitor 2008 sowie ALLBUS 2008 (als Überblick siehe Keller et al. 2013, S. 73) Tab. 1: Selbsteinschätzung als religiös bzw. spirituell; vgl. für konkrete Werte unten S. 257f). Für den neueren Religionsmonitor 2013 wäre als erste Übersicht etwa Detlef Pollack und Olaf Müller (2013) heranzuziehen. Ein aktueller religionssoziologischer Überblick findet sich auch bei Walter Schaupp (2014) im Abschnitt „Renaissance des Religiösen – Phänomene und Analysen“ (ebd., S. 17) f.).

      Die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller beschreibt Spiritualität religionssoziologisch so:

      Der zeitgenössische Spiritualitätstrend repräsentiert in weiten Teilen den modernen Typ abendländischer säkularisierter Religion […]. Spiritualität ist einerseits ein wesentlicher Bestandteil jeder religiösen Tradition und kann andererseits als Synonym für das moderne religiöse Feld dienen. Die moderne Spiritualität repräsentiert einen Typ von Religiosität, der antidogmatisch, antiinstitutionell, erfahrungsorientiert,

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