Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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sonst finde man sich in einer Nacht wieder, in der alle Katzen grau seien (vgl. Pargament 1999, S. 10) f.), Definitionen würden dann ungeeignet breit und nichtssagend (vgl. Zinnbauer et al. 1999, S. 904).76 Für den substantiellen Kern und gemeinsamen Nenner von Religiosität und Spiritualität verwenden Pargament und Peter C. Hill den Begriff das Heilige (the sacred) (vgl. Hill u. Pargament 2003, S. 65). Dieser Begriff werde inklusiv verwendet und bezeichne nicht nur direkt göttliche Vorstellungen, sondern alles, was mit dem Göttlichen in Verbindung sei oder gottähnliche Qualitäten wie Transzendenz, Immanenz, Grenzenlosigkeit oder äußerste Bedeutung habe (vgl. Pargament et al. 2013a, S. 14)77. Wahrnehmungen des Heiligen würden Gefühle wie Respekt und Verehrung wachrufen; deshalb seien z. B. selbst zentrale Weltanschauungen (strongly held ideologies) oder Lebensstile (highly elaborated lifestyles) nicht als Spiritualität zu bezeichnen, da sie nicht mit solchen Empfindungen verbunden seien (vgl. Hill et al. 2000, S. 64). Aus ihrem Definitionsvorschlag für Religion und Spiritualität (ebd., S. 66) ergebe sich als gemeinsamer Nenner die Suche nach dem Heiligen: „both spirituality and religion include the subjective feelings, thoughts, and behaviors that arise from a search for the sacred.“ (ebd., S. 68)78

      Das Grundkonzept Heiliges/sacred stieß auf mancherlei Kritik. Der Theologe und Religionspsychologe Hans Stifoss-Hanssen meint, Heiliges sei ein Konzept, das nicht von allen angenommen werde und in der wissenschaftlichen Diskussion als klassischer religiöser Begriff nach außen nicht leicht vertretbar sei (vgl. Stifoss-Hanssen 1999, S. 27) f.). Er hält das Konzept Existentialität für geeigneter: „spirituality is people’s search for meaning, in relation to the big existential questions“ (ebd., S. 28). Spiritualität und Religiosität seien wie sich teilweise überlappende Kreise, Spiritualität etwas größer, die Mittelpunkte aber nah beisammen (vgl. ebd., S. 28) f.). Josef N. Neumann kritisiert, Religion ganz allgemein lasse sich nicht von Phänomenen her definieren, „denn wird beispielsweise gesagt, Religion sei die Begegnung bzw. der Umgang mit dem Heiligen, so wird lediglich versucht, ein Unbekanntes durch ein anderes zu erklären“ (Neumann 2009, S. 118). Die Religionspsychologin Ulrike Popp-Baier hält ebenfalls das Heilige für ein problematisches Konzept, da es theologische Motive in die Religionswissenschaft schmuggle und außerreligiös oder spirituell definiert werde, dann kenne das Feld wörtlich keine Grenzen und sei außerdem nur kontextabhängige Bedeutung habe und deshalb eher zu zirkulärer und keineswegs universaler Argumentation führe (vgl. Popp-Baier 2010, S. 48) f.).

      Das zweibändige Handbook of Psychology, Religion, and Spirituality ist eine hochrangige Publikation der American Psychological Association. Im einführenden Kapitel (Bd. 1) versuchen K. I. Pargament et al. (Pargament et al. 2013a), ein integratives Paradigma für die Religions- bzw. Spiritualitätspsychologie zu entwerfen. Die Autoren weisen darauf hin, dass Definitionsprobleme beileibe nicht nur in dieser Disziplin bestünden: „To be fair to the psychology of religion and spirituality, ours is not the only field that struggles to define its parameters. Other disciplines within the social sciences must step carefully around slippery definitional boundaries of their own.“ (ebd., S. 10) Sie vergleichen die Schwierigkeit, stabile Definitionen in diesem Bereich zu finden damit, Bewegung durch ein paar Schnappschüsse einzufangen (vgl. ebd., S. 10) f.). Religion und Spiritualität seien relevant, weil sie sich mit hoch wertbesetzten Themen (issues of great value) beschäftigten (vgl. ebd., S. 16). Klar sei aber auch, dass sie sowohl hilfreich wie schädlich sein könnten: „The critical question is not whether religion and spirituality are good or bad, but rather when, how, and why they take constructive or destructive forms.“ (ebd., S. 7) Zu beachten sei, dass einerseits Religion nicht ein rein institutioneller Ausdruck und andererseits Spiritualität kein rein individuelles Phänomen, sondern trotz aller Privatisierung in viele Bezüge und Kontexte sozial eingebettet sei (vgl. ebd., S. 13). Als Sprachregelung empfehlen die Autoren je nach Untersuchungsfeld den Gebrauch beider Begriffe: „Examples of the use of both terms include links of religious and spiritual coping methods to holistic well-being; […] accessing religious and spiritual resources to facilitate pastoral and mental health counseling“ (ebd., S. 17).

      Im gleichen Handbuch warnt Pargament in einem eigenen Beitrag vor Versuchen, Religiosität/Spiritualität wegzuerklären, d. h. sie vollständig auf rein psychologische, soziale oder physische Prozesse zu reduzieren – vielmehr sei Spiritualität trotz aller Zusammenhänge ein eigenständiger Prozess: „I have marshaled some evidence in support of a simpler possibility, that spirituality is a distinctive human motivation and process in and of itself.“ (Pargament 2013, S. 269) Ein früherer Artikel macht bereits deutlich, dass Religion für reduktionistische „Nichts-als-Erklärungen“ besonders gefährdet sei (Pargament 2002a).

      Auf der Ebene der WHO ist in der Bangkok Charta für Gesundheitsförderung in einer globalisierten Welt von 2002 folgende beachtenswerte Aussage zu finden:

      Die Vereinten Nationen erkennen an, dass das Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitsstandards eines der fundamentalen Rechte aller Menschen ohne Unterschied darstellt. Gesundheitsförderung basiert auf diesem wesentlichen Menschenrecht. Dieses positive und umfassende Konzept begreift Gesundheit als einen Bestimmungsfaktor für Lebensqualität einschließlich des psychischen und geistigen Wohlbefindens. [im englischen Text „encompassing mental and spiritual well-being.“] (WHO 2005, S. 1)79

      Offenbar geht es um eine Dimension, die nicht erst in der Palliativversorgung – dort schon länger auf breiter Basis anerkannt – einen Platz verdient.80 Die deutsche S3-Leitlinie Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten etwa empfiehlt generell: „Krebspatienten sind mit körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen/religiösen Problemen konfrontiert. Diese sollen in der Versorgung berücksichtigt werden.“ (Leitlinienprogramm Onkologie 2014, S. 35) Religiosität wie Spiritualität könnten dabei ebenso protektiv wie belastend wirken, beides verdiene entsprechende Unterstützung.81

      Das in der Medizin allgemein etablierte biopsychosoziale Modell wurde von dem Psychiater George L. Engel (1977) gegen eine biomedizinische Engführung der Psychiatrie vorgeschlagen (vgl. auch Engel 1980, S. 536–538). Dieses Modell wird zwar verschiedentlich kritisiert,82 es bietet aber als mehrdimensionale „Brille“ für den Zusammenhang von Körper, Geist und Beziehungen in Gesundheit und Krankheit einen guten Ansatz,83 der sich natürlich vertiefen ließe, wofür es unterschiedliche Vorschläge gibt. Josef W. Egger hat seit 2011 an der Medizinischen Universität Graz den ersten deutschsprachigen Lehrstuhl für Biopsychosoziale Medizin inne, er schlägt ein auf dem Konzept Emergenz basierendes erweitertes Modell vor.84 Darin lässt sich auch das Psychische und Spirituelle einordnen:

      Auch alles Seelenleben – Gefühle, Gedanken, spirituelle Vorstellungen und jeweils darauf begründete Handlungen – sind untrennbar mit dem Materiellen verbunden. Es gibt kein einziges seelisches Phänomen, das ohne ein entsprechend geartetes Nervensystem denkbar ist. Ergo zählen Aspekte des Spirituellen zu den Phänomenen des menschlichen Geistes und sind Teil einer „ganzheitlichen“ Betrachtung des menschlichen Seins, wie es für die biopsychosoziale Theorie mit ihrer Leib-Seele-Einheit typisch ist. Die spirituelle Dimension […] ist ein Phänomen, das den Leistungen der menschlichen Psyche zuzuordnen ist. Dort hat sie ihren Platz – egal, ob das Spirituelle religiös oder nichtreligiös verstanden wird. (Egger 2013, S. 40)

      Eine solche Sicht der menschlichen Seite lässt sich auch theologisch ohne weiteres unterstützen, sofern sie die (im weitesten Sinne) transzendente Seite offen lässt und nicht zu einem „Nichts-als“-Reduktionismus führt.

      Egger misst dem „Prinzip Hoffnung“ eine wichtige Rolle bei:

      Hoffnungen sind psychologisch gesehen positive Erwartungen. Sie sind assoziiert mit Erfreulichem, Wünschenswertem, Erhofftem – kurz:

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