Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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müssen sie als reale Wirkfaktoren verstanden werden. […] Jedenfalls sind Hoffnungen die – über die Lebenszeit gesehen – wirksamsten Motivationen des Menschen. (ebd., S. 45)

      Irrationale, übertriebene Hoffnungen jedoch scheitern an der Wirklichkeit, sie könnten kontraproduktiv sein. „Abgesehen davon helfen sie uns aber nachhaltig bei der Ressourcenaktivierung, wenn es darum geht, schwerwiegende, auch existentielle Krisen anzupacken. […] Im therapeutischen Prozess ist der Umgang mit Hoffnung daher ein wichtiges und zugleich auch hochdynamisches Thema.“ (ebd.) Man darf sicher fragen, wann und wie religiös bzw. spirituell geprägte Hoffnungen hilfreich sind. Egger unterstreicht sehr die bleibende Aufgabe der europäischen Aufklärung „gegen die Entmündigung von Wissen und Verstand“ (ebd., S. 41) und kritisiert deswegen sowohl zu einfache Lösungen der Esoterik wie auch religiöse „Rückwärtsgewandtheit und Bezogenheit auf alte Lebenswelten“, wenn damit „Glaubenssysteme verbunden sind, die in wesentlichen Aspekten grundsätzlich falsche Ziele vorgeben bzw. fatale Überzeugungen prolongieren“ (ebd., S. 42). Religionen seien deshalb auch im Krankenhauskontext „durch stetige Neuinterpretation bzw. Auslegung an die jeweiligen Lebensbedingungen“ anzupassen (vgl. Egger 2015, S. 407 f.). Theologie ist damit durchaus einig, denn eine kritische Vernunft und „Verheutigung“ ist im Glaubensbereich unverzichtbar.85

      Der Freiburger Mediziner Thure v. Uexküll, eine der Schlüsselfiguren der psychosomatischen Medizin, ging davon aus, dass „jede Medizin mit ihren Theorien und Konzepten ein bestimmtes Menschenbild entwirft.“ (Uexküll 1989, Sp. 855) Unter psychosomatisch verstand er „eine Medizin, deren Menschenbild nicht entweder auf einen biotechnisch gedeuteten Körper oder eine spiritualistisch interpretierte Seele reduziert, sondern ganzheitlich als integrierte Einheit verstanden wird.“ (ebd., Sp. 856) Hinter den Problemen Schwerkranker zeige sich „offen oder versteckt“ oft

      die Frage nach dem Sinn ihres Lebens – und Weiterlebens […] In dieser Situation erfährt [der Arzt], daß die Medizin keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben, aber helfen kann, die Sinnfrage sinnvoll zu stellen. Sie muß klarmachen, daß es keinen für alle Menschen verbindlichen Sinn des Lebens gibt, weil jedes Leben nur in der individuellen Wirklichkeit des Betroffenen und der Wirklichkeit seiner Mitmenschen seinen Sinn hat – oder nicht hat. (ebd., Sp. 858)

      Für diese Sinnfindung sei auch die ärztliche Präsenz einfühlend mitmenschlich gefragt.86

      Alan B. Astrow, Christina M. Puchalski und Daniel P. Sulmasy (2001) definieren für den Bereich der Gesundheitssorge Spiritualität als Beziehung zu bzw. Suche nach transzendentem Sinn, der religiös sein kann – aber nicht muss:

      Spirituality is the name given to a person’s or a group’s relationship with the transcendent, however that may be construed. Spirituality is about the search for transcendent meaning. Most people express their spirituality in religious practice. Others express their spirituality exclusively in their relationship to nature, music, the arts, a set of philosophical beliefs, or relationships with friends and family. These alternative forms of spirituality can entail intense commitment. (ebd., S. 285)

      Insofern habe jeder so Suchende Spiritualität: „Thus, although not everyone has a religion, everyone who searches for ultimate or transcendent meaning can be said to have a spirituality.“ (ebd.) Deshalb müsse in der Medizin die Person in ihrer Ganzheit ernst genommen werden, worin ein erweitertes biopsychosoziales Modell anklingt: „If patients are to be treated as whole persons, they must be respected as whole persons – biologic, psychologic, social, and spiritual beings“ (ebd.).87 In einem oft zitierten Artikel beschreibt Sulmasy (2002) den Menschen als Beziehungswesen in vier Dimensionen, die durch Krankheit – jeweils mehr oder weniger – gestört würden und Beachtung bräuchten:

      A human person is a being in relationship – biologically, psychologically, socially, and transcendently. The patient is a human person. Illness disrupts all of the dimensions of relationship that constitute the patient as a human person, and therefore only a biopsychosocial-spiritual model can provide a foundation for treating patients holistically. (ebd., S. 32)88

      Puchalski et al. (2014) berichten über die International Consensus Conference on Improving the Spiritual Dimension of Whole Person Care 2013 in Genf. Dort wurde einmütig eine breite Definition von Spiritualität empfohlen, „so that as health care providers address spiritual issues with patients, they can remain alert to and hear whatever gives deep meaning to the patient, whether existential, religious, personal, or secular.“ (ebd., S. 646) Damit werde patientenzentriert ein genügend weiter Raum eröffnet: „spirituality should be defined broadly to be inclusive of religious, philosophical, existential, cultural, or personal beliefs, values, and practices and be centered on patient preferences.“ (ebd., S. 648)

      Definitorische Fragen im Blick auf Religiosität bzw. Spiritualität stellen sich auch in unmittelbar gesundheits- bzw. krankheitsbezogenen Untersuchungen. Eine hilfreiche Unterscheidung sei hier vorangestellt: Es macht einen Unterschied, ob man evidenzbasierte Outcome-Zusammenhänge untersuchen will und dafür hinreichend eindeutige/ enge unabhängige Variablen (also etwa Definitionen und daraus operationalisierte Maße von Religiosität und Spiritualität) braucht, oder ob man für den klinischen Gebrauch wie auch Bedarfserhebungen breitere und etwas weniger scharf definierte Begriffe anwendet, so dass Patienten leichter ihr persönliches Verständnis einbringen können. Diese Unterscheidung empfiehlt z. B. Harold G. Koenig, einer der namhaftesten – wenngleich nicht ganz unumstrittenen – US-amerikanischen Forscher in diesem Feld: „Rather than be exclusive as necessary in conducting research, the clinician needs to use terms that are inclusive“ (Koenig 2008a, S. 353). Und obwohl er für scharfe und nicht-tautologische Begriffe in der Forschung plädiert, hält er im klinischen Gebrauch den Ausdruck Spiritualität für besonders nützlich: „For these reasons, a broad, nebulous and diffuse term such as spirituality is ideal. Here, spirituality is a sufficiently vague term that patients can define for themselves.“ (ebd., S. 354)89

      Im umfangreichen Handbook of Religion and Health von H. G. Koenig, Dana E. King und Verna Brenner Carson (2012) finden sich Definitionen, in denen der Begriff Transzendenz zentral ist.90

      Ein breiter Definitionsansatz zu Spiritualität von Arndt Büssing et al. für die Gesundheitsforschung – ohne Verwendung des Begriffs Transzendenz – lautet dagegen:

      We would broadly define spirituality as all attempts to find meaning, purpose, and hope in relation to the sacred or significant (which may have a secular, religious, philosophical, humanist, or personal dimension). In particular, spirituality and spiritual practices have commitment to values, beliefs, practices, or philosophies which may have an impact on patients’ cognition, emotion, and behavior. (Büssing et al. 2014a, S. 1)91

      Die Umschreibung des Arztes und Psychotherapeuten Eckhard Frick geht in eine ähnliche Richtung: „In der Tat ist Religiosität eine Variante der Spiritualität. Doch kann auch ein Atheist ein spiritueller Mensch sein, indem er Sinn und Hoffnung jenseits der Grenzen des Sichtbaren, Machbaren, Erfahrbaren sucht (Transzendenzbezug ohne ausdrücklichen Gottesbezug).“ (Frick 2009a, S. 225) Und an anderer Stelle sieht er Spiritualität in der Medizin als gängigen „Breitbandbegriff, der vielfältige Formen von Sinnsuche und den Transzendenzbezug angesichts von Grenzerfahrungen umschreibt.“ (Frick 2009b, S. 148) „In der Medizin kommt als spirituell relevante Grenzerfahrung insbesondere die Auseinandersetzung mit schwerer Krankheit in Betracht.“ (ebd., S. 149)

      Der ev. Theologe Traugott Roser hält den Begriff Spiritualität „über konfessionelle Grenzen hinweg für religiöse und nicht-religiöse Weltanschauungen anschlussfähig.“ Er dürfe „nicht zu einem leeren Sammelbehälter geraten“ (Roser 2007, S. 250), sei aber gerade in seiner Unschärfe „zugunsten des Individuums,

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