Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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stellt sie sich stark gegen die Formulierung, alle Menschen seien spirituell, darin sieht sie eine unzulässige Vereinnahmung: In empirischen Untersuchung würden sich nicht alle als spirituell bzw. religiös bezeichnen, nicht jeder habe eine spirituelle Dimension, ca. ein Viertel der EuropäerInnen würde sich von Religiosität bzw. Spiritualität abgrenzen (vgl. ebd., S. 67) f.). Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei den von ihr herangezogenen Daten um empirisch erhobene Selbstzuschreibungen handelt, wo offen bleibt, warum die Personen sich so oder anders verstehen wollen.

      Auf diese grundlegende Schwierigkeit in der empirischen Forschung macht auch die Religionspsychologin Ulrike Popp-Baier (2008, 2010) aufmerksam: Konzepte wie Glaube, Spiritualität oder Religiosität gehörten einerseits zur empirischen Ebene (und würden von Beteiligten sehr unterschiedlich verstanden und eingesetzt), andererseits zur systematischen Ebene, auf der Sozialforscher die Antworten mit eindeutigen Termini und Kategorien klassifizieren, einordnen etc. Kritisch bemerkt sie:

      Ein inkonsistentes Changieren zwischen diesen Ebenen kann bisweilen »empirische« Ergebnisse zur Folge haben, die mehr an das Kaninchen erinnern, das man nur deshalb aus dem Hut zaubern kann, weil man es vorher selbst hineingesteckt hat. So ist z. B. eine Interpretation vieldeutiger Selbstbezeichnungen bzw. Selbstverständnisse wie »religiös« oder »spirituell« mit Hilfe eines der terminologisch eindeutig bestimmten Religionskonzepte aus der Literatur mehr als problematisch. (Popp-Baier 2008, S. 3)

      In der Säkularisierungsdebatte solle man deshalb das Konzept Spiritualität besser nicht verwenden, da es eine so große Vielfalt an emischen Bedeutungen (wie Menschen den Begriff benützen) und Schwächen in den etischen Konzepten (den theoretischen Definitionen) von Spiritualität gebe – man möge eher erkunden, was Menschen meinen, wenn sie von Spiritualität sprechen (vgl. Popp-Baier 2010, S. 62).97 Um die Komplexität und Vielfalt persönlicher Orientierungen bewusst zu halten, könne der Begriff Spiritualität allerdings nützlich sein (vgl. ebd., S. 61).

      Ein beachtenswerter Blickwinkel kommt aus der empirischen Sinnforschung, die nach Lebenssinn und Lebensbedeutungen fragt. Eine allgemeine Definition findet sich bei Ursula M. Staudinger und Sigrun-Heide Filipp:

      Lebenssinn lässt sich demnach umschreiben als die Bewertung des Lebens durch eine Person oder als die Bedeutung, die eine Person dem Leben zuschreibt. In dieser Definition ist sowohl enthalten, dass man im Leben einen bestimmten inhaltlichen Zweck verfolgt, wie beispielsweise materielle Sicherheit, als auch dass der Lebenssinn für eine Person darin bestehen kann, dass sie zufrieden mit ihrem Leben ist, egal ob und ggf. welche Inhalte sie in diesem Leben verfolgt. (Staudinger u. Filipp 2005, S. 752)

      Lebenssinn ist nicht einfach vorhanden, sondern – in vielerlei Lebenssituationen – je neu zu suchen: „Lebenssinn ist nicht etwas einmal ‚Gefundenes‘, das wir dann besitzen, sondern Lebenssinn ist dynamisch. Lebenssinn muss in der Auseinandersetzung mit den jeweils gegebenen Lebensumständen immer wieder neu gefunden, besser gesagt, konstruiert werden.“ (ebd., S. 752 f.) Im englischen Sprachraum hat Roy F. Baumeister einflussreiche Beiträge zum Thema meaning of life veröffentlicht. Zusammen mit Kathleen D. Vohs bringt er auf den Punkt: „The essence of meaning is connection.“ (Baumeister u. Vohs 2005, S. 608)98 Verbindungen herstellen und wahrnehmen: das scheint für Sinn entscheidend, statt „sinnloser“ Fragmentierung. Viele Menschen haben ein Bedürfnis danach.99

      Der Philosoph Winfried Löffler meint im Blick auf die diesbezügliche Empirie: „Ebenfalls empirischer Natur, aber in vielen Fällen wohl zu bejahen ist die Frage nach dem positiven Beitrag eines Lebenssinnes zur Erfahrung eines erträglichen oder gar gelingenden Lebens.“ (Löffler 2011, S. 1995) Doch er unterstreicht zu Recht, dass die Sinnfrage durchaus nicht immer gestellt wird:

      Zahlreiche Menschen stellen sich die Sinnfrage nicht, oder sie leben de facto ohne oder mit einer Mehrzahl von höchsten, in sich sinnvollen Zielen ohne definierte Priorität, etwa: Gesundheit, Arbeitszufriedenheit, erfüllende Freizeitgestaltung, Wohlergehen der eigenen Kinder und Kindeskinder. Logisch gesehen ist gegen eine solche Lebensweise auch gar nichts einzuwenden: Solange man nie in die Situation gekommen ist, sich real oder gedanklich zwischen seinen verschiedenen – und zwar zwischen allen! – solchen höchsten Zielen entscheiden zu müssen, spricht nichts gegen die Annahme mehrerer höchster Ziele. (ebd.)100

      In Krisen oder unter Belastungen kann jedoch die Frage nach den vorrangigen Zielen und Werten schnell sehr virulent werden!101

      Im deutschsprachigen Raum hat sich für die empirische Sinnforschung besonders Tatjana Schnell (2008, 2009, 2010, 2011a, 2011b, 2016) einen Namen gemacht. Lebenssinn lässt sich meist nicht einfach nennen: „Individueller Lebenssinn ist somit eher dem Prozessals dem deklarativen Wissen zuzuordnen. Daher ist nicht zu erwarten, dass er bewusst und abrufbar vorliegt. Dennoch können Menschen im Allgemeinen eine Aussage darüber treffen, ob sie ihr Leben als sinnerfüllt oder sinnlos wahrnehmen.“ (Schnell 2009, S. 103) Lebenssinn konkretisiert sich in bzw. bildet sich aus verschiedenen Inhalten.102 Schnell operationalisierte in ihrem Modell Lebenssinn in verschiedenen Lebensbedeutungen. In einer repräsentativen deutschen Stichprobe103 fand sie einen beträchtlichen Anteil von

      existentiell Indifferenten, die ca. ein Drittel der Gesellschaft ausmachen. Sie erfahren ihr Leben nicht als sinnerfüllt, leiden aber – nach ihrer Selbstauskunft – auch nicht darunter. Allerdings gibt es in ihrem Leben wenig, was ihnen bedeutsam erscheint. […] Auch, wenn sie keinen Sinn in ihrem Leben sehen und sich nicht als Teil eines größeren Ganzen verstehen, können sie doch ein zufriedenes Leben führen – ohne ausgeprägte Leidenschaften und ohne Bedürfnis, sich selbst und ihre Möglichkeiten weiter auszuloten. (Schnell 2008, S. 16)

      „Eine Mehrheit von 61 % zählen zum Typ ‚hohe Sinnerfüllung, niedrige Sinnkrise‘, während 4% […] unter einer Sinnkrise leiden, aber keine Sinnerfüllung aufweisen.“ (ebd., S. 14) – Eine nützliche Unterscheidung hinsichtlich des Bezugs zu Transzendenz wird von Schnell (2011a) als horizontale bzw. vertikale Selbsttranszendenz formuliert.104 Ihre Ergebnisse zu „Religiosität und Spiritualität als Quellen der Sinnerfüllung“ fasst sie so zusammen: In Deutschland

      ist der Bezug zu einer vertikalen, überweltlichen Selbsttranszendenz längst nicht verschwunden. Für fast die Hälfte aller Befragten nimmt der nicht-institutionalisierte Glaube an eine andere Wirklichkeit (Spiritualität) einen zentralen Platz in ihrem Selbst- und Weltverständnis ein; für über ein Drittel besitzt Explizite Religiosität eine hohe Zentralität. Beide Orientierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit den höchsten Ausprägungen an Sinnerfüllung einhergehen. Dies wird darauf zurückgeführt, dass bei beiden Lebensbedeutungen die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Bedeutungshaftigkeit und Orientiertheit in besonderem Maße unterstützt werden. (Schnell 2011b, S. 269)105

      Religionssoziologische Daten zeigen also, dass für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung – bei weitem nicht für alle! – religiöse bzw. spirituelle Orientierungen und Lebensbedeutungen durchaus eine Rolle spielen.

      Die Verwendung des Begriffs Spiritualität im oben beschriebenen weiten Sinne – sei es im Bereich der religionspsychologischen oder -soziologischen Forschung, sei es im Gesundheitsbereich – trifft auf vielfältige Kritik von verschiedenen Seiten.

      Für etliche Autoren ist der Begriff zu schwammig und breit, er werde unklar verwendet. Der kath. Theologe Erwin Möde beobachtet einen wissenschaftlichen und (kultur-)politischen „Erosionsdruck auf den christlich-metaphysischen Bedeutungsgehalt“ von Spiritualität, diese werde „akzeptier- und assimilierbar

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