Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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2004, S. 299). Selbst Richard Sloan, der den Einbezug von Spiritualität in medizinischer Forschung und Behandlung vielfach kritisiert hat (vgl. unten S. 157), möchte Religion davor schützen, hier trivialisiert und untergeordnet zu werden (vgl. Sloan 2006, S. 264).

      Es wurde kritisiert, das Konzept Spiritualität würde atheistische oder säkulare Weltanschauungen vereinnahmen und hätte unvermeidlich übernatürliche Anklänge. Andere dagegen wollen sich nicht absprechen lassen, spirituell zu sein, auch wenn sie an nichts Religiöses oder „Jenseitiges“ glauben. Wie immer, es kommt auf den gemeinten Sinn der Worte an … Wir versuchen, verschiedene Aspekte zu beleuchten (vgl. auch oben S. 51)f).

      Oben wurde bereits die Umschreibung von Jacob v. Belzen für Spiritualität angeführt: Eine mehr oder weniger bewusste „Gestaltung der Bezogenheit auf Transzendenz“ (vgl. Belzen 1997, Sp. 210). Er vermutet deshalb, wahrscheinlich seien die meisten Menschen nicht spirituell, entgegen der Ansicht, jeder sei es, denn Massen von Menschen schienen überhaupt keine Form von Transzendenz anzuerkennen und keine Form von Hingabe daran zu praktizieren (vgl. Belzen 2004, S. 308).

      Welche Art von Transzendenz ist aber gemeint? Gibt es Spiritualität ohne Transzendenzbezug? In ihrem Überblicksbeitrag Atheisten, Agnostiker und Apostaten im APA Handbuch berufen sich Heinz Streib und Constantin Klein auf die Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Transzendenz:

      To understand atheism and agnosticism, it is important to realize that the symbolization of experiences of transcendence can occur in terms of vertical or of horizontal transcendence (cf. Hood et al., 2009): Vertical transcendence involves the symbolization of a heaven above with person-like beings; in horizontal transcendence, experiences of transcendence are symbolized as experience of the holy or something of ultimate concern, but within this world, such as Mother Earth in green spirituality (Kalton, 2000). (Streib u. Klein 2013, S. 715)

      Unter Atheisten und Agnostikern fänden sich demnach Formen von Spiritualität, die vornehmlich mit horizontaler Transzendenz wie etwa der Bewahrung der Erde zu tun hätten (vgl. ebd.).131

      Eine seriöse britische Website (http://atheistspirituality.net/), die momentan von Geoff Crocker ediert wird, bietet ein Forum für eine atheistische Weltsicht, die Aspekte von Leben, Werten und Tugenden jenseits von bloßem Materialismus sucht:

      Why atheist spirituality? Some might feel that the concept of atheist spirituality is a contradiction in terms. But a lack of belief in God does not necessarily rule out a recognition of human spirituality. Atheism does not necessarily imply a reductionist view that everything in our experience is only physical. And even if it is, even if everything is ultimately shown to consist of physical elements, nevertheless, those physical elements are the building blocks of our metaphysical experience of ideas, of feelings, of truth, of goodness. We might not know, either now or even ever, how the physical generates the metaphysical, but we know for certain that it does. It is this metaphysical dimension which the site explores within an atheist position. (http://atheistspirituality.net/somedefinitions/) (Atheist Spirituality Website 2018)

      Für den therapeutischen Umgang schlagen Livia M. D’Andrea und Johann Sprenger in ihrem Artikel Atheism and Nonspirituality as Diversity Issues in Counseling vor, Atheisten als – zumindest im US-amerikanischen Kulturbereich – Minderheitengruppe zu betrachten, die besonderer Rücksichtnahme bedürfe.132 „Note that nonbelief in God, gods, or universal forces does not include the belief that there is no good, no morality, no meaning to life, and no human goodness – just that there is no supreme being (Baggini, 2003).“ (D’Andrea u. Sprenger 2007, S. 152) „Nicht-Spiritualität“ sehen sie so: „Nonspirituality is defined as having no belief in any sort of higher power, life force, universal presence, or obligation to a spiritual soul or being.“ (ebd., S. 153) Atheistische und nicht-spirituelle Personen würden dazu tendieren, sich selbst dafür verantwortlich zu sehen, ihrem Leben einen Sinn zu geben (creating meaning) und dessen Ziel zu definieren (vgl. ebd.). Das verdiene Respekt und Ermutigung.

      John R. Peteet weist darauf hin, dass die Bedeutung eines Schmerzes das Leiden definiere und dabei Weltanschauung und Leidenserfahrung einer Person sich gegenseitig beeinflussten. Atheisten, die mit Leiden konfrontiert werden, könnten dabei z. B. stolz sein auf ihre eigene Integrität, intellektuelle Ehrlichkeit oder stoische Haltung (vgl. Peteet 2001, S. 188). Auf jeden Fall wünschten Glaubende wie Nichtglaubende, dass sie in Fragen ihrer wichtigsten Werte und bei der Suche, diese auch im Leiden zu konsolidieren und integrieren, ernst genommen und begleitet würden – und zwar nicht nur als rein „psychologische“/„psychodynamische“ Bedürfnisse (vgl. ebd., S. 189–191).

      Julie J. Exline et al. schließlich fanden bei Untersuchungen von Wut auf Gott die überraschende Erkenntnis, dass auch manche Atheisten und Agnostiker solche Gefühle und Gedanken berichteten, verglichen mit Glaubenden sogar in erhöhtem Ausmaß sowohl bezüglich der Häufigkeit über die Lebenszeit hinweg wie auch der Intensität:

      Findings suggest that researchers and clinicians might miss important information if they restrict their work on anger toward God to religious affiliates and professed believers. Not only may some atheists and agnostics have anger toward God as part of their religious/ spiritual history, but some may still have anger focused on images of a hypothetical God. (Exline et al. 2011, S. 144)

      Atheistische wie agnostische Haltungen weisen offenbar analog zu glaubenden Einstellungen eine große Vielfalt auf. Vereinnahmt werden soll niemand – das wäre gegen die Berufsethik. Übergangen werden in dem, was einem an Grundwerten und -orientierungen wichtig ist in der Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung, sollte aber möglichst auch keiner.

      55 So auch Wolfgang Schoberth: „Menschsein wird sich selbst in mannigfaltiger Hinsicht fraglich; und jeder Versuch, eine Fragerichtung und eine Zugangsweise zur maßgeblichen zu machen, führt in unzulässige Reduktionen, die die anthropologische Theorie entweder letztlich irrelevant oder ideologisch machen. Die faktische Vielzahl anthropologischer Ansätze und Themenstellungen ist also nicht lediglich ein kontingentes Ergebnis der Wissenschafts- und Geistesgeschichte, sondern folgt aus der Vielzahl der Perspektiven, in denen Menschen sich selbst thematisch werden.“ (Schoberth 2006, S. 15)

      56 Diese Komplexität begegnet auch innerhalb der Psychiatrie mit ihren vielfältigen Paradigmen, wie der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs bemerkt: „Denn die Vielfalt teils komplementärer, teils konkurrierender Ansätze macht nicht nur die Lebendigkeit und den Reichtum der Psychiatrie aus, sie entspricht auch ihrem Gegenstand, nämlich dem psychisch kranken Menschen in seiner ganzen Komplexität.“ (Fuchs 2010, S. 236)

      57 Auf die Situation der Krankheit angewandt: „So aber kommt der Kranke in einem intensiven Sinn in die Situation des Menschen überhaupt: in ein Wissen der Erfahrung von sich selbst, dessen letzte Deutung ihm selber dunkel bleibt. Der Mensch erfährt sich als Geheimnis, als eine Frage, auf die er keine Antwort hat. Er erfährt das eigene Dasein als dunkel und antwortarm, nicht weil es wirklichkeitsleer wäre, weil nichts dahinter wäre, sondern weil sein Gehalt den Fragenden übersteigt.“ (Rahner 1966, S. 267)

      58 Diese Offenheit könnte analog sein zur theologischen Betrachtung vom Menschen als Geheimnis: Es ist ökumenischer Konsens, dass der Mensch wesentlich „von seiner Beziehung zu Gott her“ zu sehen sei, dadurch bleibe er – so Gisbert Greshake – Geheimnis: „Wenn aber dies die tiefste Aussa ge über den Menschen ist, daß er vor dem unendl., unbegreifl. Gott steht, so folgt daraus, daß er selbst in seinem innersten Wesen unbegreiflich ist, ein Geheimnis, das über alle Definitionen hinaus ins Grenzlos- ‚Undefinierbare‘ verweist.“ (Greshake 1993, Sp. 730)

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