Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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dignity, and sensitivity need to be defined in relation to the complex contexts of practice where diverse claims about spirituality enter into the realm of care-giving encounters.“ (ebd., S. 22)

      John Swinton und Stephen Pattison stimmen der Kritik an den Begriffen zunächst zu: Spiritualität oder Spiritual care würden in endlos unterschiedlicher und unklarer Weise benützt, sie hätten keinen Bezug zu festen Wesenheiten oder Objekten in Menschen oder in der Welt – aber trotz dieser Unschärfe sei die Sprache von Spiritualität im Gesundheitsbereich sinnvoll (vgl. Swinton u. Pattison 2010, S. 227). Sprachen seien – im Sinne Wittgensteins – nicht nur referentiell, sondern auch performativ und expressiv: deshalb sei es sinnvoll, ein „dünnes“, vages, funktionales Verständnis von Spiritualität im Kontext der Gesundheitssorge zu entwickeln (vgl. ebd.). Bei Krisen wie ernster Krankheit entstünden oft Spiritualitäts-, Sinn- oder Identitätsfragen – wie anfänglich oder undeutlich artikuliert auch immer: Äußerungen dieser Art sollten in ihrer Funktion und Richtung gehört und ernst genommen werden (vgl. ebd., S. 229). Eine Suche nach der „ursprünglichen“ Bedeutung von Spiritualität sei deshalb für den Gesundheitsbereich gar nicht nötig (vgl. ebd., S. 230). Viele Schlüsselbegriffe im Gesundheitswesen wie Ganzheit, Pflege oder Person würden ähnlich aufkommen, seien konstruiert und wandelbar – selbst alltägliche Worte wie „leadership, person, values, religion, art, love, and friendship are equally vague, contested, multi-, or poly-valent, but nonetheless important and necessary.“ (ebd., S. 230 f.) Eine sinnvolle Funktion von Sprache sei es ferner, jenseits der konkret beschreibbaren Dinge auch Grenzbereiche des Greifbaren zu bezeichnen (limit language)119 – das geschehe durch Spiritualität. Sie funktioniere tendenziell sogar als eine Weise, Abwesendes/Nicht-Vorhandenes (absences) mehr noch als Anwesendes (presences) zu benennen. Dazu könnten auch im säkularen biomedizinischen Ansatz teilweise vernachlässigte Fragen nach Sinn, Hoffnung, Bestimmung, Verbundenheit, Liebe, Gott … gehören, Dimensionen, die in der Krankheitserfahrung oft virulent würden und früher häufig in religiöser Sprache ausgedrückt wurden (vgl. ebd., S. 231 f.). Die Autoren empfehlen deshalb eine „dünne“ und vage Beschreibung von Spiritualität (anstatt von „dicht“ und reich),120 die eher durch klinischen Nutzen als durch konzeptuelle Klarheit bestimmt sei: Durch eine unscharfe Beschreibung könne man mehr sehen als man mit ganz engen Kategorien wahrnehmen würde, und so auf das achten, was Patienten im klinischen Umfeld oft fehle. Ein „dünnes“ Konzept brauche oft eine sehr dichte Antwort, die komplexes und nuanciertes Verstehen und Antworten beinhalte und auch interdisziplinäre Perspektiven nötig mache. Der Begriff Spiritualität könne als metaphorischer Container für ein ganzes Feld fungieren, als ein sensibilisierendes Konzept für existentielle Themen wie Sinn, Bestimmung (purpose), Bezogenheit (relationality), Hoffnung, Werte, Liebe, Gott, Transzendenz (vgl. ebd., S. 232–234).121

      Swinton (2012) weist darauf hin, dass Spiritualität im beschriebenen Sinne darauf ziele, im Gesundheitsbereich idiographisches Wissen122 um die einzelne Person als bedeutsame Dimension der Versorgung und legitime klinische Kategorie anzuerkennen – was in einer evidenzbasierten Kultur, die normalerweise nomothetischem Wissen123 Priorität einräume, einen Wandel der Sicht auf die Welt bedeute und damit nie eine einfache Aufgabe sei.124

      In einem der Grundsatzreferate bei der Third International Conference of the British Association for the Study of Spirituality, Spirituality in a Challenging World schlug Swinton vor, angesichts einer legitimen Vielfalt von Spiritualitäts-Definitionen eher im Plural von Spiritualitäten zu denken: Je nach Kontext und Zweck würden Forscher und Praktiker als funktionale Konzepte entsprechende Definitionen konstruieren (vgl. Swinton 2014, S. 163). Für ein richtiges Verständnis von dem, was schwere Krankheit ist, hält er Beziehungs-, Identitäts- und/oder Spiritualitätsaspekte für wesentlich: Sie sei nicht nur eine biologische Fehlfunktion, sondern verändere die Welt und Identität von Patienten grundlegend, was nicht übergangen werden dürfe (vgl. ebd., S. 172).125

      Das WPA Position Statement on Spirituality and Religion in Psychiatry (Moreira-Almeida et al. 2016) der World Psychiatric Association mahnt, trotz aller Definitionsfragen das Thema als relevant zu berücksichtigen (vgl. unten Abschn. 3.3.4).

      Für Peter J. Verhagen sind Psychiatrie/Wissenschaft (science) und Religion keine Feinde, sie könnten Verbündete sein zum Wohl der Menschen im Einsatz gegen Unsinn und Aberglaube. Einsicht und Urteilsvermögen (discernment) gehörten nicht nur zu Wissenschaft, sondern auch zu den religiösen Traditionen, die Formen der Unterscheidung und Einordnung von Erfahrungen enthielten: „Discernment focuses on what is said to be true, valuable, and decisive in our lives and contributes to what meaning giving is. Spiritual discernment in that sense is a decisive intersubjective aid and a common strategy for knowing and judging developed in every spiritual tradition“ (Verhagen 2012, S. 357).126 Dass es in der Religion nicht irrational zugehen muss, besonders wenn eine bewährte Glaubensgemeinschaft dahinter steht, unterstreicht auch Walter Schaupp:

      Da große und schon lang existierende Religionssysteme über einen reichen Erfahrungs- und Reflexionsschatz verfügen, gelingt es ihnen meist, dem Glauben ein hohes Maß an innerer Konsistenz und Ausgewogenheit und somit rationale Nachvollziehbarkeit zu geben. Daher kann die beschriebene Abkoppelung im Rahmen einer hoch individualisierten Form von Religiosität immer wieder zu irrational anmutenden Formen von Religiosität führen. (Schaupp 2014, S. 18)

      Da darf und muss man genau hinschauen.

      Auf Kritik war auch der Begriff spirituelle Bedürfnisse gestoßen (s. o. Paley S. 69). In der Tat wird Bedürfnis hier eher als eine Art pragmatische Kurzformel für die gemeinte Dimension und das für sie Nötige verwendet, vielleicht nicht in psychologisch theoretisch ganz striktem Sinne.127 Zunächst kam der Begriff vor allem im Palliativbereich häufiger vor (vgl. z. B. Kellehear 2000, Murray et al. 2004), dann im Gesundheitsbereich allgemein (vgl. Hodge u. Horvath 2011).

      Eckhard Frick verwendet den Begriff zwar auch für die Beschreibung von Spiritual Care als „die gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe für die spirituellen Bedürfnisse, Wünsche und Ressourcen kranker Menschen“ (Frick 2014b, S. 56), sagt aber auch einschränkend: „Spiritualität kann nicht auf ein Bedürfnis reduziert werden, das gestillt werden kann wie Hunger, Durst oder Müdigkeit.“ (ebd., S. 62)128

      Crystal L. Park et al. sprechen im genannten APA-Handbuch vom Bedürfnis nach einem Sinnsystem und unzähligen auf Sinn bezogenen Fragen: „humans possess a general need for a well-functioning meaning system that is motivated by myriad meaning-related demands“ (Park et al. 2013, S. 159). Religion schreiben sie dafür eine wichtige Rolle zu.129

      Hans-Joachim Höhn steht aus theologischen Gründen einer Orientierung an subjektivistischen Bedürfnissen kritisch gegenüber: „Luthers Frage ‚Wie finde ich einen gnädigen Gott?‘ heißt nicht mehr: ‚Wie werde ich den Anforderungen Gottes gerecht, dass er mir gnädig wird?‘ Im Zentrum steht jetzt das Problem: ‚Wie finde ich einen Gott, der mir und meinen Bedürfnissen gerecht wird?‘“ (Höhn 2006, S. 6) Auch Jürgen Werbick meint, wenn auch das „unbedingt Angehende“ entgegen religionskritischem Verdacht wahres Menschsein nicht sabotierte, dürfte es dennoch nicht verzweckt werden (vgl. Werbick 2005, S. 69):

      Insoweit Religion als Beziehung zu einer göttlichen Wirklichkeit verstanden werden darf, steht auch sie unter der Spannung, daß der Beziehungspartner Mensch sie als gut für sich selbst schätzen, in ihr seine Erfüllung – Identität, Friede, Freude, Trost, Lebens- und Hoffnungsperspektiven, Kontingenzbewältigung – suchen und doch zugleich die Beziehung zu Gott nicht einfachhin als Mittel zu diesem Zweck ansehen darf. (ebd., S. 68).130

      Der Religionspsychologe Jacob A. v. Belzen meint ebenso,

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