Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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können. ‚Spiritualität‘ als ‚wertebewusste Existenzweise‘ wäre schließlich als passende Formel für Zivilreligion und Gesellschaft ebenso konsensfähig wie banal.“ (Möde 2007, S. 19) Der ev. reform. Theologe Frank Mathwig benennt angesichts heterogener Konnotationen des Spiritualitätsbegriffs auf andere Autoren zurückgreifend diesen polemisch als „Megatrend oder Megaflop?“ (R. Polak), „Containerbegriff“ (A. Giebel), zu den „Plastikwörtern“ gehörend (U. Pörksen) (vgl. Mathwig 2014, S. 26).

      Die ev. Theologin Isolde Karle befürchtet einen empfindlichen Verlust:

      Den größten Verlust, der mit einem vagen und unbestimmten Religions- oder Spiritualitätsbegriff einhergeht, sehe ich darin, dass er zu einer Entkonkretisierung und inhaltlichen Entleerung religiöser Sprache beiträgt. […] Religion ist in ihrer historisch gewachsenen Gestalt immer auf konkrete Inhalte, Rituale und Sozialformen bezogen und kommunikativ verfasst. Wird Religion abstrakt und vage definiert, wird sie entkörperlicht und entsinnlicht, formalisiert und schematisiert. Übrig bleibt ein fleischloses Gerippe, dem das Wesentliche verloren ging. (Karle 2010, S. 552)106

      Dieses Anliegen ist durchaus berechtigt. Durch die Öffnung eines weiten Horizonts soll das konkrete Gute nicht im Allgemeinen aufgelöst werden.

      Die kath. Pastoraltheologin Doris Nauer beschreibt in ihrer Monographie zum Thema Spiritual Care in einem Unterkapitel „Das zugrundeliegende Spiritualitätsverständnis“ (Nauer 2015, S. 49–55). Als kritische Anfrage diskutiert sie dieses unter der Überschrift Verengter oder zu weiter Spiritualitätsbegriff? (ebd., S. 94–98): Der Begriff sei zu eng, wenn er „auf rein innerweltliche, sprich horizontale Inhalte begrenzt wird“ (ebd., S. 95), es verbiete „sich nahezu, im Spiritualitätsverständnis die vertikale Linie der Erfahrung von Transzendenz / Gott / Göttlichem zu vernachlässigen oder gar auszublenden.“ (ebd., S. 96) Wirklich weit wäre ein Spiritualitätsbegriff „erst dann, wenn ausdrücklich die außerweltlich-vertikale Perspektive, sprich der persönliche Bezug zum Transzendenten, Göttlichen, Heiligen, Numinosen und Geheimnsivollen mit ins Spiel kommt.“ (ebd., S. 95)

      Nauer beruft sich öfters auf die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller, die Spiritualität nicht von Religion trennen will: In der Begriffsdebatte meint sie, „dass die Trennung von Spiritualität und Religion in eine Sackgasse führen muss. Spiritualität verdunstet, wenn sie sich nicht von anthropologischer Existenzialität unterscheidet.“ (Heller u. Heller 2014, S. 49) Der weite Begriff von Spiritualität sei offen, aber schwammig:

      Die Begriffsoffenheit wird positiv auf die Personzentrierung im modernen Gesundheitswesen und die individuellen Ausprägungen selbstbestimmter Spiritualität bezogen. Das eigentliche Problem der terminologischen Unbestimmtheit besteht aber doch darin, dass Spiritualität teilweise so weit gefasst wird, dass darunter nur mehr eine vage Sinnsuche oder eine existenzielle Lebenseinstellung verstanden wird. (ebd., S. 50)

      Für sie ist die religiöse Rückbindung wesentlich: „Spiritualität ist wohl als der eigentliche Kern jeder religiösen Tradition zu betrachten.“ (ebd., S. 51)

      Sehr kritisch äußert sich auch der Psychoonkologe Pär Salander (2006, 2012). Die Wissenschaft benötige den Begriff Spiritualität nicht: Das Verhältnis zu Religion sei unklar, das Konzept selber unscharf und unnötig (vgl. Salander 2012, S. 20). Er vermutet z. B., dass die Antworten von Menschen auf Fragen nach dem Empfinden von „Sinn und Ziel“ (als Ausdruck von Spiritualität) meist ihr generelles Wohlbefinden (well-being) ausdrückten: „people experience life as meaningful / not meaningful and this is very close to saying ‚I’m feeling fine‘ / ‚I’m feeling bad‘.“ (ebd., S. 22)107 Spiritualität sei ein „Regenschirmbegriff“, mit dem Autoren verschiedene Themen unter ihren eigenen Schirm steckten (vgl. ebd., S. 26). Bisher als psychologische und psychosoziale bezeichnete Themen würden plötzlich als spirituell definiert (vgl. ebd., S. 24) f.), was durch diesen Begriff oft einen religiösen Touch bekomme (vgl. ebd., S. 23) und die Frage aufwerfe, ob das Konzept Spiritualität eine säkulare Weltsicht respektiere (vgl. ebd., S. 29). Dem Konzept fehle ein theoretisches Rationale, systematische Bedeutung und damit klare Abgrenzungen zu benachbarten Konzepten, Operationalisierungen seien außerdem oft vermischt mit Indikatoren von Gesundheit und Wohlbefinden (vgl. ebd., S. 27). Zu bevorzugen sei die Erforschung und Beachtung existentieller Herausforderungen, mit denen alle Mensch umgehen müssten – Freiheit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Tod (Yalom 1980)108 –, was sie auf unterschiedliche Weise tun würden: Manche mit säkularer, manche mit religiöser/spiritueller Weltsicht (ebd., S. 28).

      Ralph W. Hood stimmt Salander zu, dass vieles in der Forschung zu Spiritualität im Gesundheitsbereich eine Falschmeldung (hoax) sei, weil neue Begriffe für wohlbekannte existentielle Realitäten geschaffen würden (vgl. Hood 2012, S. 109).

      Peter La Cour und Niels C. Hvidt plädieren dagegen dafür, die drei Bereiche existentieller Sinngebung (existential meaning-making) nicht künstlich zu trennen: In der realen Welt dächten viele Patienten über ihre Existenz in säkularen, spirituellen und religiösen Begriffen nach, und die Mehrheit tue dies vielschichtig simultan (vgl. La Cour u. Hvidt 2010, S. 1293). Diese drei Dimensionen/Ebenen würden sich im Geist und Herzen der meisten Menschen überlappen (vgl. ebd., S. 1298), keine davon sei von vornherein den anderen übergeordnet (vgl. ebd., S. 1294). Im Übrigen (unter Bezug auf Hall et al. 2008) existiere weder generische (allgemeine) Spiritualität noch generisches existenzielles Denken, diese seien immer in spezifischen kulturell-sprachlichen Kontexten verwurzelt (vgl. La Cour u. Hvidt 2010, S. 1293). Das Gegenteil von Glaube im Kontext von Sinnfindung sei Indifferenz: „In terms of meaning-making the opposite of a belief is not dis-belief, but existential indifference.“ (ebd., S. 1294) Auch das ist eine Möglichkeit, die man wählen kann …109

      Heinz Streib und Ralph W. Hood halten in der Religionspsychologie das Konzept Spiritualität für unnötig, verwirrend und für eine Energieverschwendung, das bewährte Konzept Religion sei wissenschaftlich ausreichend (vgl. Streib u. Hood 2011, S. 449). Zusammenfassend formulieren sie drei Thesen: „Our first thesis says: Self-identified ‚spirituality‘ is (nothing but) religion. Our second thesis says: This ‚spirituality‘ is part of religion. The third thesis says: ‚spirituality‘ is privatized, experience-oriented religion.“ (ebd., S. 448)110 Es sei jedoch sinnvoll, das Verständnis von Spiritualität (als emischen Begriff) bei denen zu erforschen, die sich damit selbst identifizierten bzw. als „eher spirituell als religiös“ oder „spirituell, aber nicht religiös“ bezeichneten (vgl. ebd., S. 448 f.).111

      Viele Autoren bemerken kritisch, dass sich bei Befragungen in der Bevölkerung kein gemeinsames Verständnis von Spiritualität zeige. Daniel E. Hall, Keith G. Meador und Harold G. Koenig unterstreichen, dass eine generische Religiosität bzw. kontext-freie Spiritualität nicht existiere, sie stünden immer in einem Kontext von Kultur, Tradition etc. Es sei deshalb auch unmöglich, Religiosität oder Spiritualität ohne diesen jeweiligen spezifischen Kontext zu erforschen (vgl. Hall et al. 2008, S. 155). Die Autoren schlagen einen Vergleich mit Sprachen und Linguistik vor:

      However, the recognition that people are all“spiritual” in their human search for meaning is like recognizing that all languages use similar patterns of grammar and syntax. There is much to learn from the study of linguistics, but the dry text of linguistic theory can never replace the living verse of Shakespeare. Language does not exist“in-general” because it is always encountered in particular forms (ebd.).

      Insofern könne Spiritualität eine Art Linguistik für konkrete Formen von Glaube bzw. Praxis sein, aber keine universale Sprache des Glaubens (vgl. ebd., S. 156).

      Peter La Cour, Najda H. Ausker und Niels C. Hvidt befragten in Dänemark

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