Geist & Leben 3/2016. Christoph Benke

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Geist & Leben 3/2016 - Christoph Benke

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von „Religion öffentlich“ und von „Religion privat“, von Bekenntnis und geheimem Gefühl. Genau aus dieser Polarität heraus entwickelt sich Scham. In beidem spielt das Gefühl eine zentrale Rolle. Und ich meine, dass hinter all den oben gestellten Fragen das oft verdeckte Verhältnis von Religion und Scham liegt.1 So soll in diesem Artikel zuerst das Phänomen Scham in einer zeitgeschichtlichen Perspektive zu Wort kommen. Daran wird sich die Frage nach einem „verschämten Christentum“ anschließen, das von einem „bekennenden Christentum“ angefragt wird und umgekehrt. Daraus entwickelt sich die Forderung nach einem sensiblen Umgang mit Scham im Kontext religiöser Praxis, also die Forderung nach einer „scheuen Frömmigkeit“, die in einem dialektischen Verhältnis von objektiv und subjektiv, von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen, von außen und innen steht. Das Beispiel scheuer Frömmigkeit in der Gemeinschaft von Taizé soll die Überlegungen abschließen.

       Scham – zeitgeschichtlich

      Über das Phänomen Scham wurde in den letzten Jahren fast inflationär geschrieben. Allerdings wurde sie meist mit dem Begriff der Peinlichkeit umschrieben. Über ihre mannigfaltigen Gesichter schreibt Martin Hecht in Psychologie heute: „Es gibt jene (Scham), die wir empfinden, wenn andere in unsere Intimsphäre eindringen oder wir versehentlich in ihre. Oder jene, die wir empfinden, wenn wir beim Lügen erwischt wurden oder anderen Unrecht getan haben. Und es gibt jene soziale Scham, die man heute meint, wenn man von peinlichen Situationen spricht. Sie steigt in uns auf, wenn uns bewusst wird, dass wir uns in einer bestimmten Situation nicht angemesssen verhalten haben, gleichgültig ob tatsächlich oder nur vermeintlich.“2 Scham bewegt sich am Limit zur Intimität und bei Überschreitung dieser Grenze wird es als unangenehm, als peinlich erlebt – und dies in doppeltem Sinne. Zum einen entsteht Angst, aufgrund des Fehlverhaltens ausgeschlossen zu werden und zum anderen macht sich ein Schuldgefühl breit, den anderen verletzt zu haben. Scham scheint sich aus zwei Urgefühlen zu nähren: „Schuld und Angst. Schuld regt sich, denn in jedem Peinlichkeitserlebenis rührt sich eine Stimme, die sagt: Das hätte dir nicht passieren dürfen! Angst kommt auf, deshalb die Achtung der anderen zu verlieren.“3 Man könnte also von einem moralischen und einem sozialen Gefühl sprechen, das die Scham auslöst. Beide Gefühle finden sich auch in der religiösen Praxis, wenn die Schamgrenze überschritten wird.

      Scham ist ein Phänomen, das wieder stärker ins Bewusstsein rückt. Kristian Fechtner beschreibt es als „Gefühlssignatur der spätmodernen Kultur“4. Nach einer kulturkritischen Analyse der letzten Jahre des fortschreitenden Schamverlusts und medialer Schamlosigkeit wird sie wieder bedeutsamer. Man muss eingestehen, dass trotz der Parolen: „Du sollst dich nicht schämen müssen!“ keiner der Peinlichkeit entgeht. In Fernsehsendungen werden diejenigen, die sich über die Schamgrenze hinaus bloßstellen, nochmals bloßgestellt. Dahinter verbirgt sich offensichtlich ein verletztes Selbstwertgefühl, ferner die Not mit der eigenen Lebensgeschichte umzugehen und die Sehnsucht, man selbst sein zu dürfen. Scheinbare Schamlosigkeit bewegt sich also keineswegs in einer schamfreien Zone.

      Der Psychoanalytiker Léon Wurmser spricht von einer „Maske der Scham“5: „Schamaffekte tarnen sich gleichsam in ‚schamabwehrenden Deckaffekten‘, sei es im Trotz, im Spott oder sogar im Stolz, mithin im Gegenteil dessen, was als Scham erlebt wird.“6 So kann sich paradoxerweise hinter aggressiv zur Schau gestellter Schamlosigkeit ein Moment von Schamangst verbergen: „Die Angst, beschämt zu werden, wird gleichsam offensiv gewendet.“7

      In gleicher Weise definiert der Soziologe Norbert Elias im Gegenzug zur heute verbreiteten Vorstellung, Scham schwinde in der historischen Entwicklung mehr und mehr, Schamgefühle als „verinnerlichte Zwänge der Selbstkontrolle, mittels derer die Individuen lernen, ihre Affekte zu zügeln und damit zu verbergen. Sie setzen voraus, dass sich (…) eine Sphäre der Intimität ausgebildet hat, die durch Schamgrenzen gesichert wird.“8 Schamgefühle sichern also Intimität, auch wenn sich die Schamgrenzen verschoben haben, gerade im körperlichen Bereich.

      Diese zeitgeschichtliche Analyse von Schamgefühlen hebt heraus, dass Scham ein komplexes Gebilde ist, das manchmal verdeckt und manchmal offensichtlich ist. Gerade wenn sie verloren scheint, mag es lohnenswert sein, die verschobene Schamgrenze zu identifizieren.

      Bleibt das Schamgefühl in der religiösen Praxis unbeachtet, führt es zu Entfremdung, zu Exklusion und Widerstand. Gerade Religion ist etwas sehr Persönliches, das mit Scham behaftet ist, beispielsweise die innere Frage, ob ich gläubig genug bin oder ob ich zu fromm wirke. Diese Fragen mag der eine oder andere unbewusst fühlen, jedenfalls werden sie selten thematisiert. Religiöse Äußerungen und christliche Glaubensvorstellungen kommen in der alltäglichen Kommunikation, zumindest im europäischen Raum, kaum vor. Glaube ist gar ein Tabu. Gibt es also ein verschämtes Christentum, dem dezidiert bekennende Christen, wie Freikirchen und Charismatiker, bewusst entgegen wirken möchten?

       Verschämtes Christentum

      Meist weiß man nicht, wie Kolleg(inn)en am Arbeitsplatz oder Freunde im Sportverein ihrem Glaubensleben Ausdruck geben, ob sie ab und zu beten oder in der Bibel lesen. „Der Verzicht darauf, religiös in persönlicher Weise zu kommunizieren, ist mehr als eine kulturelle Konvention, der man als gesellschaftlicher Regel folgt. Er ist auch mit der Empfindung gefüttert, dass Religion etwas vom Innersten einer Person offenbaren kann, mithin etwas von ihr zeigen würde, das nicht nach außen gehört.“9 Religion hat jedenfalls etwas mit Emotion zu tun und mit etwas sehr Persönlichem, das im Zusammenhang mit einer Schamgrenze steht.

      Die Vorstellung von einem verschämten oder distanzierten Christentum kommt v.a. in Bezug auf distanzierte Kirchlichkeit zur Sprache. Besonders suchende Menschen, die sich noch nicht ganz mit der Kirche und ihrem Glauben identifizieren wollen, empfänden es als unangenehm, wenn sie mit denen verwechselt würden, „die ihre Religiosität so exponiert leben, wie die kleine Schar derjenigen, die sonntags zum Gottesdienst kommen“10. Allerdings stellt Fechtner heraus, dass es sich bei distanzierter Kirchlichkeit nicht nur um einen kirchentheoretischen Aspekt handelt, sondern dass die religionspsychologische Perspektive die Innenseite der Medaille ist – nämlich eine emotionale.11 Sich von einem kirchlichen Teilnahmeverhalten zu distanzieren ist eine innere Abgrenzung in der persönlichen Identitätsbildung. Als kirchlich Distanzierte(r) greift man punktuell in außergewöhnlichen Situationen des Lebens auf Kirche zu und braucht ansonsten Kirche oder einen Gottesdienst nicht. Die innere Scham besteht darin, dass man nicht als kirchlich Bedürftige(r) identifiziert werden möchte, sondern die emotionale Distanz als innere Intimität empfindet. „Distanzierte Kirchlichkeit erscheint als eine Form des Christentums, das in den Grenzen der Scham gelebt wird.“12

      Mit dieser Definition vom „distanzierten Christentum“ soll nun der Begriff der „scheuen Frömmigkeit“ von Thomas Halik in Verbindung gebracht werden.13 Halik beschreibt damit eine Form der Spiritualität, die Glaube und Kirche v.a. aus der Distanz beobachtet, die noch nach einem eigenen Stil der Frömmigkeit sucht und die sich noch vorrangig im Modus des Fragens befindet. Er vergleicht diese Menschen scheuer Frömmigkeit mit Zachäus, der sich neugierig, aber aus der Distanz Jesus nähert und nach der Begegnung mit ihm, nicht zwingend zu seinem Jünger, zu einem gläubigen Mensch wird. Diese Menschen möchten sich in ihrer Frömmigkeit nicht zeigen, Religion halten sie für privat. Die Öffentlichkeit als religiöses Forum würde in ihnen emotionale Scham auslösen.

      Dennoch ist es diesen Menschen möglich, sich religiös öffentlich zu zeigen, „wenn dies eingefasst wird in institutionelle Formen (…), auch wenn sie vielen Umstehenden eher fremd anmuten mögen. Aber diejenigen, die sich beteiligen, sind nicht ‚privat‘ unterwegs, sondern agieren in einer rituellen Rolle.“14 Bei einer Prozession oder bei einer Erstkommunion können sie sich durchaus religiös zeigen. Allerdings darf auch hier die Schamgrenze nicht überzogen werden. Eine zu aktive Beteiligung am liturgischen Geschehen würde ein Unwohlsein auslösen, das aus der Scham heraus eine innere Distanz und Blockade hervorrufen würde.

      An

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