Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten. Группа авторов
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Von seinen Mitbürgern wurde Görres zusammen mit drei Gesinnungsgenossen nach Mainz entsandt, um vor den französischen Besatzungsbehörden Beschwerde zu führen gegen die Willkürakte des kommandierenden Generals Leval. Dies brachte ihm eine zwanzigtägige Haftstrafe ein. 1799 reiste er an der Spitze einer Delegation seiner Heimatstadt nach Paris. Nach dem Sturz des Direktoriums bat er um eine Beendigung der drückenden Okkupation und eine Vereinigung und Gleichstellung des linken Rheinufers mit Frankreich. Seine persönliche Begegnung mit dem Ersten Konsul Bonaparte ließ ihn die prophetischen Worte an seine Mitbürger schreiben: „Nehmt auch in Bälde den Suetonius zur Hand, denn der neue Augustus ist fertig.“8 Die in Paris gewonnenen Eindrücke heilten den jungen Idealisten von seiner revolutionären Begeisterung. Der Gesinnungswandel war nicht Resultat reinen Nachdenkens, sondern folgte einer Kollision mit der Realität.
In seiner Schrift „Resultante meiner Sendung nach Paris“ (1800) erklärte er seine Abkehr von einer republikanischen Verfassung, denn „der Zweck der Revolution (ist) gänzlich verfehlt.“9 In dieser Schrift warnt er seine Mitbürger vor den Ideen der Französischen Revolution und entdeckt seine „rheinisch-deutsche Verwurzelung.“ (Rudolf Morsey) Aus dem vom Geist der Revolution inspirierten Weltbürger wurde der seiner rheinischen und deutschen Identität bewusste Patriot.
II.
Mit dem neuen Jahrhundert beendete er seine politisch-publizistische Tätigkeit und wandte sich seiner wissenschaftlichen und literarischen Arbeit zu. Er übernahm eine Gymnasiallehrerstelle für Chemie und Physik an der Französischen Sekundärschule in Koblenz, seinem früheren Gymnasium. Es war eine wenig einträgliche Stelle mit einem Jahresgehalt von 1.400 Franken, aber sie gestattete ihm einen bescheidenen Lebensstandard. Im Herbst 1801 gab er seinem Leben einen festen Rahmen durch die Vermählung mit Katharina von Lassaulx, Tochter des früheren Kurtrierischen Hofrats Peter Ernst von Lassaulx. Sie war eine schöne, geistvolle und freigeistige Frau. Das Paar begnügte sich mit einer zivilen Eheschließung nach französischem Recht.
Die Tätigkeit als Gymnasialprofessor ließ Görres Zeit, seine naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien zu vertiefen und sich darüber hinaus mit indogermanischer Philologie und Mythologie zu beschäftigen. Zudem fühlte er sich zur Kunstwissenschaft hingezogen. In jener Zeit entstanden seine Schriften „Aphorismen über die Kunst“ (1802), „Aphorismen über Organonomie“ (1803), „Exposition der Physiologie“ (1805) und „Aphorismen über Organologie“ (1805) sowie sein Buch „Glauben und Wissen“ (1806), das sich noch in den von der Schellingschen Naturphilosophie vorgezeichneten pantheistischen Bahnen bewegte, aber doch schon eine Rückkehr zur katholischen Kirche erahnen ließ, deren wichtigstes Sprachrohr im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts er werden sollte. Seine schriftstellerische Tätigkeit in literarischen Zeitschriften wurde vom zeitgenössischen Idealismus inspiriert. Herder und Schelling halfen ihm, die Bedeutung von Sprache, Nationalstereotypen und Volkstum zu entdecken. Sein Geschichtsverständnis begann sich zu wandeln. Der revolutionäre Fortschrittsoptimist wurde zu einem konservativen Denker mit offenen Sinnen für Metaphysik. Sein Weltbild wurde vom Streben nach organischer, lebendiger Universalität bestimmt.
1806 wechselte er als Dozent an die Heidelberger Universität, um dort philosophische, physiologische und anthropologische Vorlesungen zu halten. Er bot aber auch Veranstaltungen zu altdeutscher Literatur an. Die erstaunliche Vielfalt seiner Interessen und seiner geistes- und naturwissenschaftlichen Kenntnisse wollte er einmünden lassen in eine Synthese von Geistes- und Naturwissenschaft.
Nach Heidelberg hatte ihn sein früherer Mitschüler und Jugendfreund Clemens von Brentano geholt. Zusammen mit ihm und Achim von Arnim wurde Görres zum Mitbegründer der jüngeren Romantik. Zu seinen Heidelberger Hörern gehörte auch Joseph von Eichendorff. In den Tagebüchern von Joseph von Eichendorff charakterisiert der romantische Dichter die Astronomie-Vorlesung von Joseph Görres: „Blaß, jung, wildbewachsen, feurigen Auges, aber monotoner Vortrag.“ Seine philosophische Vorlesung empfand Eichendorff als „ein göttlich Kolleg.“ Später schreibt er „Es ist unbegreiflich, welche Gewalt dieser Mann, damals selbst noch jung, auf die Jugend ausübt. Sein freier Vortrag war monoton, fast wie ein fernes Meeresrauschen, schwellend und sinkend, aber durch das einförmige Gemurmel leuchteten zwei wunderbare Augen und zuckten Gedankenblitze beständig hin und her; es war wie ein prächtiges nächtliches Gewitter, weckend und zündend für ein ganzes Leben.“10
Doch die Heidelberger Zeit blieb Episode. 1808 kehrte er auf die freigehaltene Stelle an der Sekundärschule in Koblenz zurück. Dort setzte er seine eklektischen sprachwissenschaftlichen und mythologischen Studien fort und lernte sogar im Selbststudium Persisch. Er veröffentlichte eine zweibändige „Mythengeschichte der asiatischen Welt“ (1810). In den Vorworten zu seinen Werken und in Aufsätzen behielt Görres das politische Geschehen in Deutschland im Auge. In „Über den Fall Teutschlands und die Bedingungen einer Wiedergeburt“ (1810) plädierte Görres für eine sittlich-religiöse Erneuerung. Als Voraussetzung einer solchen Erneuerung forderte er die Schaffung einer öffentlichen Meinung als Gewissen der Nation und der Regierungen.11
III.
Es sollte nicht lange dauern, bis Görres seine Forderung nach der Formierung einer öffentlichen Meinung selbst verkörpern konnte. Nach der Völkerschlacht von Leipzig (1813) erschienen im Januar 1814 die Heere der Alliierten am Rhein. Vor ihnen zog sich die französische Besatzungsmacht zurück. So konnte Görres am 23. Januar die Erstausgabe einer neuen Zeitung, nämlich seines „Rheinischen Merkur“ herausbringen. Mit Joseph Görres sollte der „Rheinische Merkur“ seine Leser für die deutsche Sache und die der Heiligen Allianz gewinnen.
Görres‘ Popularität, seine Sprachkraft, seine Energie verhalfen dem Rheinischen Merkur trotz der geringen Auflage von 5.000 Exemplaren zu der Stellung eines Nationalblattes, wie es Deutschland weder vorher noch nachher besessen hatte. Das Blatt erschien zwei bis viermal wöchentlich und wurde bald als Stimme Deutschlands im Kampf gegen Napoleon wahrgenommen. Mit dem Titel „Rheinischer Merkur“ wollte Görres „die rheinische Zunge, welche seit zwanzig Jahren in der Genossenschaft deutscher Völkerschaften beinahe ganz verstummt, in dem großen deutschen Orden wiederherstellen und ihr wieder Sitz und Stimme verschaffen im Rat der Brüder.“12
Der „Rheinische Merkur“ und sein Herausgeber wurden zum nationalen Sprachrohr der Deutschen gegen die Napoleonische Herrschaft. Von der nationalen Erregung ließ sich auch die deutsche Elite anstecken. Nicht nur die romantischen Schriftsteller und Freunde von Joseph Görres wie Clemens von Brentano, Achim von Arnim und die Gebrüder Grimm, auch Ernst Moritz Arndt, Gneisenau, Blücher und Scharnhorst unterhielten enge Beziehungen zum Herausgeber des „Rheinischen Merkur“. Auch der Weimarer Geheimrat Goethe besuchte zusammen mit Freiherr vom Stein Görres im August 1815 in