Im Fahr. Susann Bosshard-Kälin

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Im Fahr - Susann Bosshard-Kälin

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stehe in meinem Leben, hatte Zeit und Musse, zu sein, zu beten und einfach in mich hineinzuhören – einen Tag lang in meinem eigenen Tempo zu leben.

      Ich heisse Schwester Matthäa – das ist die weibliche Form von Matthäus. Zur Einfachen Profess, wenn wir uns für drei Jahre im Kloster verpflichten, bekommen wir als Sinnbild für ein neues Leben auch einen neuen Namen. Simone hätte mir gefallen, nicht aber der Priorin. Sie schlug Matthäa vor. Ein völlig fremder Name. Ich trug den Vorschlag mit mir herum, und nach einigen Monaten im Noviziat freundete ich mich mit ihm an. Ja, ich fand den Namen immer klösterlicher – zudem konnte man ihn nicht verunstalten. Trotzdem, etwas irritierte mich, und ich besprach es mit unserem → Spiritual: Die Redensart «Heute ist Matthäi am Letzten!» ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass die Bedeutung der Wendung gar nicht pessimistisch und hoffnungslos, sondern positiv in die Zukunft gerichtet ist. Sie stammt vom allerletzten Vers im Matthäus-Evangelium, der heisst: «Ich bin bei euch, alle Tage, bis zum Ende der Welt.» Tröstlich. Warum sollte ich also nicht Matthäa heissen?

      Ich denke, unser Leben gleicht einer Wendeltreppe. Es geht aufwärts oder auch runter, aber immer weiter und weiter. Das Leben ist für mich kein Kreis, Leben fliesst hin zu Gott, schlussendlich.

      Das Symbol der Wendeltreppe habe ich in einem «Weihnachtsturm» in Ton interpretiert. Fünfzig Figürchen stehen auf dem Treppenweg hinauf; sie versinnbildlichen die Heilsgeschichte von der Erschaffung des Menschen über die Verkündigung an Maria, die Geburt im Stall, die Flucht nach Ägypten bis zu Tod und Auferstehung Jesu. Es gehören auch Zwischenböden dazu. Zwischen Hoch und Tief ist das Mittendurch, der Alltag. Das Aushalten des Unspektakulären, wenn das Leben ruhig fliesst, ist auch wichtig. Der Turm stellt für mich das Wachsen, vielleicht auch mein Wachsen im Klosterleben dar. Ich bin froh, dass er nicht verkauft wurde. Denn das meiste, was ich in dreissig Jahren an Kunsthandwerklichem schuf, ist in der Welt draussen. Der Turm blieb. Das ergab sich so. Er war für die Person, die ihn bestellt hatte, schliesslich zu teuer. Mein Glück! Die Leidenschaft fürs Arbeiten mit Ton wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Erst im Kloster durfte ich meine handwerkliche Gabe erkennen und entwickeln. Ein Geschenk.

      Ich bin in der Nähe von Stettfurt aufgewachsen. Der Thurgau ist mir sehr lieb. Er ist mein Ursprung. Am 12. Januar 1946 wurde ich daheim auf unserem Bauernhof im Weiler Chöll geboren, getauft auf den Namen Rita Maria. Mein älterer Bruder Guido war zwei Jahre vor mir zur Welt gekommen, der jüngere, Beda, zwei Jahre nach mir. 1951 kam Edith und 1959 als Nachzüglerin Brigitte dazu. Unsere Grosseltern väterlicherseits lebten mit uns auf dem Hof, der schon seit Generationen den Wismers gehörte.

      Ich war ein ruhiges Kind, das lieber mit Puppen spielte, strickte und Puppenkleider nähte, am Holzherd Suppe oder Omelette kochte, als im Stall zu helfen. Es war Nachkriegszeit, und wir mussten zu allem Sorge tragen. Wir waren eine religiöse Familie, aber nicht frömmlerisch. Fleisch gab es bei Tisch meist nur für die Erwachsenen. Für uns Kinder legte Mutter jeweils ein Brotmutschli als Ersatz in die Fleischsauce – eine herrlich mundende, unvergessliche Kindheitserinnerung! Den ersten Mantel schneiderte Mutter für mich aus ihrem eigenen, alten – mein Stolz war fast grenzenlos. Welches gleichaltrige Mädchen in der Gegend hatte schon einen Mantel!

      Da wir abgelegen wohnten und zu Fuss eine halbe Stunde unterwegs waren bis hinunter ins Dorf Stettfurt, galten wir in der Schule manchmal als Aussenseiter. Wir konnten nicht wie unsere Kameraden nach der Schule auf dem Pausenhof spielen, sondern hatten einen weiten Heimweg. Die Schule hätte es von mir aus gar nicht gebraucht. Zu Hause bei Mutter und im Haushalt hätte ich mich gut verweilen können! Sieben Primarschuljahre absolvierte ich in Stettfurt dann doch und wurde für die achte Klasse zu den Dorothea-Schwestern nach Flüeli-Ranft geschickt, gefolgt von einem Haushaltsschuljahr in Freiburg bei der gleichen Schwesterngemeinschaft. Dort entstand mein Berufswunsch: etwas tun für und mit Kindern.

      Als 17-Jährige, nach einem Praktikum in einer Kinderkrippe in Genf und einem Haushaltslehrjahr bei einer Familie in Frauenfeld, begann ich mit der einjährigen Ausbildung als Wochenpflegerin in der katholischen Pflegerinnenschule Alpenblick in Hergiswil. Die Ausbildung war anspruchsvoll, aber ich fühlte mich in meinem Element, liebte vor allem die kleinen Kinder. In der Institution, die ein Durchgangsheim für alleinstehende Mütter mit ihren Kleinen war, lebten sechzig bis siebzig Kinder, vom Neugeborenen bis zum bald zweijährigen Kleinkind. Sie wohnten, getrennt von ihren arbeitstätigen Müttern, wochentags bei uns im Heim und brauchten viel Zuwendung. Leider hatten wir, mit bis zu 14 Kindern pro Gruppe, immer zu wenig Zeit. Das schmerzte mich. Darüber hinaus hiess es, wir dürften uns nicht an sie binden – wir könnten die Kleinen ja nicht mit nach Hause nehmen!

      Mit dem Schulabschluss in der Tasche begann ich bei verschiedenen Familien im Luzernischen und in der Ostschweiz als Wochenpflegerin zu arbeiten. Angestellt war ich beim Katholischen Frauenbund, der meine Einsätze koordinierte. Innerhalb von wenigen Stunden musste ich mich immer wieder auf neue Familiensituationen einstellen. Von null auf hundert. Ich betreute und pflegte die Babys, half im Haushalt, und es kam vor, dass ich sogar bei Hausgeburten dabei sein durfte.

      Für noch mehr Sicherheit und Fachwissen im Haushalt besuchte ich im Jahr 1965 den Sommerkurs an der Bäuerinnenschule im Kloster Fahr. Meine Mutter hatte mir den Kontakt über eine Zürcher Verwandte verschafft. Mit Ordensfrauen hatte ich immer gute Erfahrungen gemacht, ich mochte sie.

      Im Fahr angekommen, zog es mir buchstäblich den Ärmel rein! Ich wäre am liebsten geblieben. Die Gottesdienste, der regelmässige Besuch der Vesper, die lateinischen Gesänge, überhaupt die Atmosphäre – ich war begeistert. Der Wunsch nach einem Leben im Kloster wurde während der zwanzig Wochen, welche die Schule dauerte, deutlich spürbar. Noch in dieser Zeit sprach ich mit Priorin Elisabeth darüber. Sie reagierte zurückhaltend und meinte, ich solle zuwarten. Ich sei mit 19 Jahren noch zu jung für einen Klostereintritt.

      Klosterleben und Kinder – das würde ja wohl nicht zusammengehen. Dieser Gedanke kam mir nach der Schule immer wieder. Familienmutter und Bäuerin zu sein, wäre für mich auch denkbar gewesen. Ich hätte mir einen jungen Mann in meiner Umgebung als Ehegatten vorstellen können – einen Bauernsohn. Er wusste nichts davon. Und ich traute mich nicht, es ihm zu sagen.

      Als Familienhelferin und Wochenpflegerin arbeitete ich in den darauffolgenden zwei Jahren in Dutzenden von Familien. Ich sah in unzählige Familienleben hinein, erfuhr von eindrücklichen Schicksalen. Das prägte mich.

      Die Sehnsucht nach dem Kloster Fahr blieb. Mit dem Moped fuhr ich in meiner Freizeit öfters mal ins Limmattal, besuchte Gottesdienste in der Klosterkirche und sass im Chuchistubli bei den Schwestern. Zwischendurch schaute ich mir auch das Kloster in Ilanz an, liebäugelte mit den Gemeinschaften in Ingenbohl oder Menzingen. Aber das Fahr wars! Ich wurde ruhig und spürte eine innere Zufriedenheit, ja Frieden, als ich mich entschieden hatte. Am 2. November 1967 trat ich als Kandidatin ein. Für die Daheimgebliebenen war es schwierig zu verstehen, dass ich mit 21 Jahren in ein geschlossenes Kloster eintrat und nie mehr heimkonnte.

      Keine eigenen Kinder zu haben, wog schwer. Aber ich wusste, wenn es andere Frauen schaffen, dann schaff ich das auch. Klar, wenn ich es hinter den Klostermauern nicht ausgehalten hätte, wäre ich wieder ausgetreten. Aber so weit kam es nie, an meiner Berufung zweifelte ich nicht. In einer Ehe verspricht man sich, in guten und in schweren Zeiten zusammenzuhalten, und man weiss ja auch nicht, was auf einen zukommt. Als Ordensfrau ist es ebenfalls ein Ja-Sagen. Christus sagte schon vor meinem Klostereintritt Ja zu mir. Und ich versuche, jeden Tag neu, Ihm mit meinem Klosterleben das Ja zurückzugeben.

      Dennoch: In den ersten Monaten konnte ich nicht sagen, ob es das nun definitiv war. Ich hatte kaum Zeit zu überlegen. Der Rhythmus des Alltags war so anders, als ich es bisher gewohnt war. Und ich begriff längst nicht alles, was mir als gegeben präsentiert wurde. Ich musste mich einfach durchbeissen. Gerne hätte ich etwas mehr freie Zeit für mich gehabt oder etwa einen Brief nach Hause geschrieben. Aber Kontakte nach aussen waren in jeder Form untersagt. Und wenn aus Versehen eine Tür hinter mir

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