Im Fahr. Susann Bosshard-Kälin
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Ich hätte nie gedacht, dass es einem als Menschen so schlecht gehen kann. Aber man weiss nie, was im Leben passiert. Ruhe ist seither für mich entscheidend. An einem regulären Tag im Kloster komme ich gut zurecht. Aber Festtage wie Weihnachten und Ostern sind schlimm: Da herrscht viel Umtrieb, wir können beim Essen reden und singen viel. Dann bleibt mir nichts anderes, als mich zurückzuziehen, zwei, drei Stunden, in die Stille.
Die Schwesterngemeinschaft musste lernen, mich anzunehmen, wie ich bin. Das ist sicher nicht immer einfach. Aber ich schätze ihr Verständnis und ihre Fürsorge sehr.
Heute bin ich die Assistentin von Schwester Monika, arbeite «i. A.», im Auftrag, und helfe ihr mit dem Obst, im Kräutergarten, beim Dörren. Sie kann mich rufen, wenn sie mich braucht. Ich decke auch den Tisch im Konvent für das Mittag- und das Abendessen, benötige dafür jeweils eine halbe bis eine Dreiviertelstunde. Wegen meiner Behinderung leide ich nicht, ich denke, sie muss wohl eine Prüfung sein. Sie wird einen Grund haben. Die Frage nach dem Warum stelle ich mir nie. Aber ich sage dem Herrgott, dass ich hoffe, in meiner Sterbestunde werde das, was ich alles durchgemacht habe, angerechnet. Wer weiss?
Die Sache mit meinem Ohr ist das Schlimmste in meinem Leben. Aber ich nehme alles an, was kommt – auch die Knöchelfraktur am linken Fuss vor einem Jahr. Mit zwei Platten und neun Schrauben im Bein durfte ich nach der Operation für zwei Wochen nach Dussnang in die Rehabilitation. Nicht einen Moment haderte ich. Es war eine gute Zeit dort, ich erholte mich – und musste anschliessend nicht einmal mehr in die Ferien.
Dass ich als Kind scheu war, glaubt mir heute niemand. Aber es war so. Meine Eltern führten das städtische Bürgerheim. Und so bin ich im Armenhaus von St. Gallen geboren, am 21. Juli 1946, an einem Sonntag. Es sei eine schwere Hausgeburt gewesen, eine Risikogeburt in Steisslage. Nach sechs Kindern war ich eine Nachzüglerin, Mutter war bereits in den Vierzigern. Als sie wieder Babysachen zu stricken anfing, fragten meine Geschwister, ob das für die Missionen sei! Wäre ich ein Bub geworden, hätte ich Gerhard geheissen. Auf die Geburt eines Mädchens waren meine Eltern nicht vorbereitet. Und so schlug meine Patin in der Not den Namen Theresia vor. Ein Mädchen, trösteten sich meine Eltern, würde ihnen im Alter beistehen. Und ausgerechnet die Jüngste ging ins Kloster! Bei mir war und ist einfach immer alles ein bisschen anders als bei andern. Ich glaube, das wurde mir schon in die Wiege gelegt.
Unser Familienleben sowie der Betrieb des Heims für Obdachlose und Randständige der Stadt St. Gallen gingen ineinander über. Mutter kochte für die 15 Insassen und für uns, putzte und besorgte einen grossen Garten, zusammen mit Angestellten, und mein Vater führte den Landwirtschaftsbetrieb, in dem die Heimbewohner zeitweise mithalfen. Erst im Kindergarten, 1952, lernte ich andere Kinder kennen. Bis dahin hatte ich fast ausschliesslich mit meiner Familie und den Frauen und Männern im Bürgerheim Kontakt.
Vermutlich war ich schon von klein auf gesundheitlich anfällig. Meine Geschwister nahmen mich als Anderthalbjährige zum Schlitteln mit und vergassen mich. Während sie miteinander spielten, liessen sie mich, auf einen Schlitten gebunden, alleine im Schnee. Ich sei schon blau angelaufen und total verfroren gewesen, als sie mich schliesslich heimbrachten – Bronchitis und Asthma waren seither meine ständigen Begleiter.
In der Primarschule war ich eher eine Mitläuferin, aber ich lernte gern. Mein Knoten löste sich dann in der Sekundarschule. Dort wurde ich zur Klassenchefin gewählt, völlig überraschend. Ich hätte mir das nie zugetraut. Jetzt merkte ich: Die hören auf mich. Das gab mir ungeahntes Selbstvertrauen. Ich spürte plötzlich, ich kann etwas, ich bin wer.
Wie es nach der Schule mit mir weitergehen sollte? Ich hatte keine Ahnung. Mich drängte niemand zu irgendwas. Meine Eltern hatten genug zu tun und konnten sich nicht auch noch um mich kümmern. Meine Freundin Cornelia schrieb mir aus dem Internat in Nordfrankreich, wo sie ein Jahr verbrachte, wie toll es dort sei. Und so meldete ich mich spontan an und fuhr mit einer Gruppe Schweizerinnen im Herbst 1961 für ein Jahr nach Frankreich. Heimweh hatte ich nie. Ich spürte, ich bin gemeinschaftsfähig, obwohl ich ja wie ein Einzelkind aufgewachsen war. In der Gruppe fühlte ich mich geborgen, konnte meine Meinung vertreten und lernte un peu de français. Mein Humor, ein eher trockener Humor, den ich von Vater geerbt habe, half mir sehr.
Ich wäre gerne Clownin geworden oder Dirigentin. In beiden Berufen hat man mit Menschen zu tun. Sie zu erheitern, über die Musik zusammenzuführen, ihnen Freude zu bereiten, das hätte mir gefallen. Aber beide Ausbildungswege waren im Umfeld, in dem ich gross wurde, unvorstellbar.
Ein Onkel vermittelte mich zu einer Familie mit fünf Kindern nach Uitikon-Waldegg. Dann arbeitete ich für kurze Zeit in einem Büro in St. Gallen, wo ich auf einer elektrischen Schreibmaschine Briefe tippte, und schliesslich entschied ich mich, Krankenschwester zu werden.
Als 18-Jährige nahm mich die Psychiatrische Klinik Wil auf. Die drei Jahre als Lernende auf verschiedenen Abteilungen gefielen mir sehr gut. Die Welt in der Klinik war keine fremde für mich – zu Hause im Bürgerheim hatte ich bereits Bekanntschaft mit Menschen aller Art und mit verschiedenen psychischen Krankheiten gemacht. Nur die Drogensüchtigen, so fand ich, waren hier nicht richtig aufgehoben. Aber wo hätte man sie damals sonst unterbringen sollen? Geeignete Institutionen befanden sich in den Sechzigerjahren erst im Aufbau.
In diesen Jahren hatte ich einen Freund, einen sehr lieben. Er wohnte in meiner Nachbarschaft, und wir unternahmen viel gemeinsam. Aber ich spürte, er ists nicht fürs Leben. Das liess ich ihn wissen, was ihn sehr betrübte. Er meinte, ich hätte wohl einen anderen. Ich mochte ihn sehr, hatte aber immer das Gefühl, dass da noch etwas anderes für mich kommt. Keine einfache Situation. Er heiratete später eine liebe Frau, und die beiden kamen mich im Kloster sogar besuchen.
Zwar hatte ich nun mein Diplom als Psychiatrieschwester, aber was ich mit meinem Leben anstellen sollte, war mir nicht klar. Ich fühlte mich wie in einer Sackgasse. In meiner Not fing ich an zu beten: «Herrgott, ich hätte gerne ein Zeichen, wie es weitergehen soll – heiraten, oder was sonst soll ich tun?»
Es klingt fast kitschig. Aber ich bekam dieses Zeichen wirklich. Während einer langen Nachtwache hatte ich im Stationszimmer Zeit, in Zeitschriften zu blättern. Ein Artikel von Schwester Hedwig, der Ordensfrau und Dichterin Silja Walter, fiel mir ins Auge: «Und unten blühen die Königskerzen – ein monastischer Tag im Kloster Fahr». Ich las begeistert, schloss das Heft und wusste: Das Kloster Fahr ist es. Es war eine Gebetserhörung. Wenn Leute zu mir kommen und sagen, sie beten und es passiere nie etwas, dann kann ich sagen, dass es meistens so sei. Aber es gebe sie auch, die Gebetserhörung.
Ein Leben in einem Kloster konnte ich mir vorstellen, war doch eine meiner älteren Schwestern in jungen Jahren in ein offenes Kloster in Freiburg eingetreten und glücklich mit ihrem Leben. Ich meldete mich also im Kloster Fahr an und spürte, dass die Priorin, Schwester Elisabeth, etwas zurückhaltend war. Sie wusste ja nicht, wer da ins Kloster wollte. Die meisten jungen Frauen, die sich bewarben, waren ihr bekannt, sie kamen über die Bäuerinnenschule ins Kloster. Wenn sie bloss nicht verlangt, dass ich noch diese Schule absolviere!, durchzuckte es mich. Erst als ich meine Schwester erwähnte, die in einem Kloster lebte, wurde es einfacher, und ich konnte mich für die → Kandidatur anmelden.
Meine Arbeitsstelle im Spital kündigte ich mit der Begründung, ich würde ins Ausland gehen. In der Öffentlichkeit von einem Klostereintritt zu reden, traute ich mich nicht. Die Enttäuschung des Oberarztes war gross – hatte er mir doch die Verantwortung für eine Abteilung übergeben wollen.
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