Ausbildung der Ausbildenden (E-Book, Neuauflage). Geri Thomann

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Ausbildung der Ausbildenden (E-Book, Neuauflage) - Geri Thomann

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und politischer Wirklichkeit aus Sicht des Individuums an.

      Im austauschenden Nachvollzug der Biografien anderer spiegelt sich gemäss diesem Konzept stets auch die eigene Erfahrung. Erinnerungen sind persönliche Mythen, die sich in Lebensgeschichten äussern. Die Verbalisierung dieser Geschichten durch Erzählen oder Verschriftlichen ordnet die Erinnerungen und löst in einem Gestaltungsakt reflexive Prozesse aus. Dafür braucht es selbstverständlich interessierte und aktive Zuhörer/innen und Leser/innen.

      Im Zuge der aufkommenden Kognitionspsychologie wurde bildungsbiografische Arbeit zusehends von metakognitiven Modellen abgelöst, die mehr das individuelle Lernen als die Bildung im Kontext der Gesellschaft fokussieren.

      Trotzdem scheint mir der bildungsbiografische Zugang nach wie vor gültig und relevant angesichts der Zunahme gesellschaftlich bedingter individueller Risikolagen, etwa bei Statuswechseln als sogenannte «critical life events», angesichts der grossen Verschiedenheit Lernender und der sich schnell verändernden gesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen.

      Der Umgang mit wachsender Parallelität von unterschiedlichen Lebensmilieus könnte zu einer unserer grossen zukünftigen Herausforderungen werden.

      Für Lehrende mit ihren annähernd 15 000 Stunden Unterrichtserfahrung als Schüler/innen (ohne Studienzeit) ist es meiner Ansicht nach unerlässlich, die institutionelle Bildungsbiografie zu bearbeiten (vgl. Forneck 1987, S. 100).

      Ich mag mich gut an die Erkenntnisse und Erfahrungen einer äusserst altersheterogenen Biografiegruppe innerhalb eines Ausbildungsganges erinnern, in welcher sich durch die erzählten und geschriebenen Geschichten (von «Kindheit im 2.Weltkrieg» über «68-er-Erfahrungen» bis zum «lebensästhetischen Individualismus der 90-er Jahre») individuelle Lebensbedingungen mit historischen Bezügen mischten und einzelne Menschen damit sozusagen zu wandelnden Zeitdokumenten wurden.

      Am stärksten zeigte sich dieses Phänomen anhand des Vergleichs von weiblichen Biografien.

      Die diesbezügliche Auseinandersetzung der Kursteilnehmer/innen hat gemäss ihren eigenen Aussagen ihren Horizont und ihr Verständnis für menschliche Geschichten in ihrer historisch-politischen Dimension erweitert.

      Freilich braucht biografische Arbeit Zeit, die in schnell abrufbaren Ausbildungsmodulen eher fehlt.

      Innerhalb neuerer didaktischer Ansätze (z. B. der subjektiven Didaktik nach Kösel, 1997) taucht der Begriff «biographische Selbstreflexion» wieder als Möglichkeit auf, «die eigenen Realitätstheorien kennenzulernen» (Kösel 1997, S. 273).

       «Ich untersuche also, wie ich den Lehrstoff selbst konstruiere, welche Muster in mir meine Wahrnehmung steuern und welche Konstruktionen und Beschreibungen von Erkenntnis und im Vergleich zu Lernenden und auch zu anderen Lehrenden ich anfertige» (Kösel 1997, S. 273).

      Dieser Zugang erinnert an metagkognitive Modelle, an Senges Definition der «mentalen Modelle» oder das Konzept subjektiver Theorien (siehe 3.5 in diesem Kapitel).

       «Mentale Modelle sind tief verwurzelte Annahmen, Verallgemeinerungen oder auch Bilder und Symbole, die grossen Einfluss darauf haben, wie wir die Welt wahrnehmen und wie wir handeln. Sehr häufig sind wir uns dieser mentalen Modelle oder ihrer Auswirkungen auf unser Verhalten nicht bewusst.» (Senge 2017, S. 8)

       3.3«Produktives Scheitern» – Reflexion von Scheitererfahrungen

       Einmal versuchen, scheitern. Wieder versuchen, wieder scheitern. Besser scheitern. (Samuel Beckett)

      Erinnern Sie sich an Alexis Sorbas am Ende des berühmten Filmes, als sein Traum geplatzt war und das ehrgeizige Projekt der Seilbahn vom Berggipfel zum Meer in sich zusammenfiel?

      Politische Denker der Aufklärung (Hobbes, Locke) beschäftigten sich mit der Gestaltungskraft des Menschen, die zusehends «perfektibel» (Zschirnt 2005, S. 37) wurden, Scheitern mutierte dadurch zum individuellen Konflikt. Die Ideen der Aufklärung beeinflussten Biographiekonzepte wie auch die Industrialisierung und Verstädterung des 19. Jahrhunderts oder die Medialisierung des öffentlichen und privaten Lebens im 20. und 21. Jahrhunderts (vgl. Zahlmann/Scholz 2005, S. 8). Biographische «Normalität» wurde und wird in alters- und geschlechtsspezifischer Prägung konstruiert (Erwerb, Ruhestand, Geschlechterrollen, Formen des Konsums und der Freizeit).

      Noch unsere Elterngeneration sprach hin und wieder von gescheiterten Existenzen (meist Männer, bei Frauen wurde mit demselben Unterton gesprochen, wenn sie als «gefallen» bezeichnet wurden). Die geschlechtsdifferenten Lebensläufe als Stufenalter (Aufstieg, Höhepunkt, Abstieg) boten kaum Raum für Überraschungen oder Abweichungen. Das Diktat sozialer Erwartungen definierte die Norm und damit auch das Scheitern als deren Nichterfüllung (vgl. Zschirnt 2005).

      Heute werden wir immer «perfektibler» – zwar nicht mehr ganz im Sinne der Aufklärung, wo der Mensch sich seines Verstandes bedienen sollte und gleichzeitig moralisch belehrbar war.

      Was früher (allgemeines) «Schicksal» war, ist heute (individuelles) «Problem»; wir haben nicht nur grosse Aussichten, sondern müssen auch Brüche, Unvorhergesehenes, erzwungene Richtungswechsel, Orientierungswechsel und Stillstand aushalten.

      Wenn man alles aus sich machen kann, kann man auch wenig oder nichts aus sich machen; wer alles aus sich machen soll, ist vielleicht bereits schon gescheitert.

      Die griechische Tragödie machte das Theaterpublikum jeweils zu Zeugen des tosenden Unterganges des Protagonisten, heute können wir alle Helden werden.

      Misslingenserfahrungen sind alles andere als angenehm in dem Moment, in dem sie geschehen. Aus der Retrospektive werden die Erfahrungen unter Distanznahme und Reflexion nicht selten zu einem veritablen «begleitenden Kompass» und zu bedeutsamen biografischen Wegweisern – hier liesse sich von «produktivem Scheitern» sprechen – andere Erfahrungen dagegen hinterlassen eher ein dumpfes Gefühl, versperren sich nach wie vor einer Erklärung und Einordnung.

      Das produktive Scheitern entspricht dem Hoffnungsprogramm der Professionalisierung: Bewältigte Schwierigkeiten dienen durch ihre Analyse wiederkehrend, eigene Kompetenzen aufzubauen und zu erweitern; sie repräsentieren eine Kraftquelle.

      Das «dumpfe Zweite» lässt sich hoffnungsvoll als «noch nicht verarbeitet» bezeichnen, pessimistisch kann es auch als eigenes Versagen oder eben als (vorläufig) endgültiges Scheitern gesehen, welches wir besser aus der Erinnerung bannen.

      Scheitern wird wenig bedacht in unserer effizienz- und qualitätsorientierten Gegenwart. Scheitern ist in pädagogischen Kontexten grundsätzliches und vermeintlich endgültiges Nicht-Erfüllenkönnen von Plänen oder Nichterreichen von Zielen. Chaos, Unordnung und Disharmonie scheinen in unserer Kultur negativ belegt, das Projekt «Leben» muss ohne Umwege effizient geplant sein, Überraschungen sind nicht vorgesehen. Gleichzeitig existiert jedoch ein reiches und divergierendes Angebot an Lebensentwürfen, das Umbrüche, Umwege und Perspektivenwechsel ermöglicht und sogar provoziert. Eine Paradoxie?

      Das Scheitern gehört zwar irgendwie zum Leben – möglichst aber nicht zu unserem. Als lästiges Nebengeräusch begleitet uns die Scheiter-Möglichkeit als Angst vor Armut, vor Arbeitslosigkeit, vor Krankheit, vor Statusverlust. Richard Sennett bezeichnete Scheitern als letztes Tabu der Moderne (2000): Alle denken daran, keiner spricht darüber – oder doch und dann in voyeuristischer Manier und medienwirksamer Geschwätzigkeit; exhibitionistische Lebensberichte in TV-Shows lassen Scheitern als Anekdotenstation paradoxerweise zum Erfolg mutieren.

      Scheitern bedeutet «Zerschlagenes»,

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