Ausbildung der Ausbildenden (E-Book, Neuauflage). Geri Thomann
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«Zerbrochen tost das Steuer, und es kracht Das Schiff an allen Seiten. Berstend reisst Der Boden unter meinen Füssen auf! Ich fasse Dich mit beiden Armen an! So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.»
(Goethe 1968, S. 161)
Literatur und Filmkunst bieten reichhaltigen Stoff für Scheitergeschichten (das da wohl beliebteste Thema nebst der Liebe): Odysseus entrinnt dem «Scheitern» als Götterurteil im Kampf zwischen Menschen und Schicksal nur knapp, Hamlet sieht selber ein, wie katastrophal seine Lage ist. Don Quichotte scheitert daran, nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können, Charlie Chaplin scheitert als «Tramp» unentwegt und behält paradoxerweise dabei immer seine rührende Würde.
Trotzdem oder gerade deswegen erscheinen in diesem Zusammenhang paradoxerweise konsistente Konzepte (Lebenskonzepte, Organisationsdesigns, Managementsysteme oder didaktische Drehbücher) wiederum unumgänglich für eine «Sicherheitsproduktion». Zumindest braucht es eine beruhigende Kalkulation des Risikos von Unplanbarem. Der Ratgebermarkt boomt wie noch nie.
Beziehen wir uns in einem weiteren Schritt in nachstehenden Überlegungen auf pädagogische Arbeitsfelder, lässt sich fragen, ob die Eigenheit der deutschsprachigen Bildungstradition diese Spannung nicht noch potenziert, denn sie ist durch harmonisierende Züge und die Mission eines Hoffnungsprogrammes gekennzeichnet: Pädagogisches Handeln setzt immer Entwicklung zum potenziell Besseren sowie das Erreichen von Zielen voraus; das Gelingen pädagogischer Bemühungen ist – auch um Pädagogik selber zu legitimieren – zentral; allfälliges Scheitern wird nicht in Kauf genommen. Eine «Kultur des Scheiterns» hat hier mit Schwierigkeiten zu rechnen, scheinbare Planbarkeit wird als Illusion aufrechterhalten, obschon der Anspruch nicht zur Wirklichkeit passt. Pädagogische Konzepte lassen sich selber als Sicherheitskonzepte (gegen das Scheitern) lesen, weil Pädagogik durch ihren existentiellen Charakter – im Gegensatz zur Kunst – über ein grosses Sicherheitsbedürfnis verfügen muss.
Somit ist Pädagogik weitgehend nicht auf Scheitern eingestellt, weil sie sich davor in der Hoffnung auf künftiges Gelingen schützen muss. Darum lässt sich fragen: Wie gehen Pädagogen und Pädagoginnen denn mit ihren hohen Ansprüchen, ihrer Verantwortung und dem alltäglichen Misserfolg um?
Alexis Sorbas tanzt übrigens einen Sirtaki, nachdem sein Projekt in sich zusammengefallen ist – wahrscheinlich so wie nie zuvor.
Ein Gedicht von Ungaretti (1961, S. 66, orig. 1917) nimmt diesen schöpferisch-poetischen Akt ebenso auf:
Allegria di naufragi | Freude der Schiffbrüche |
«E subitio riprende il viaggio come dopo il naufragio un superstite lupo di mare» | «Und plötzlich nimmst du die Fahrt wieder auf wie nach dem Schiffbruch ein überlebender Seebär» |
(Übersetzung von Ingeborg Bachmann, Ungaretti 1961, S. 67) |
Wie lassen sich Scheitererfahrungen reflektieren oder nutzen? (Vgl. Thomann, Wehner und Clases 2016, S. 113 ff.)
Das Scheitern enttabuisieren: durch Explikation und Analyse
●Nicht-Funktionieren, Misserfolg, Fehler und Scheitererfahrungen nehmen sozusagen «kulturell» in Aus- und Weiterbildung sowie in der berufsbegleitenden Professionalisierung von Dozierenden und Lehrpersonen einen wichtigen Platz als Ausgangslage für Lernen und «Navigationskorrekturen» ein. Ganz im Sinne des Weick'schen Organisationsverständnisses (vgl. Kap. VII, 3.4.) lässt sich im Rahmen der institutionalisierten Professionalisierung das Scheitern als stetes Analysekriterium und Option aufnehmen und damit enttabuisieren. Dieses Verständnis ergänzt zumindest die herrschende Null-Fehlerkultur (Fehlervermeidung) im Rahmen aktueller Qualitätsmanagementbestrebungen.
Möglichkeiten und Gefässe schaffen für Umdeutungs- und Reflexionsprozesse
●Grundsätzlich sind Aus- und Weiterbildende in ihrer täglichen Arbeit «existentiell betroffen», was darauf hinweist, dass der berufsbegleitenden persönlichen Praxisverarbeitung viel Bedeutung beigemessen werden muss. Umgang mit Brüchen beispielsweise als Scheitererfahrung (Kontrollverlust, Ohnmacht) und in der emotionalen «Scheiterchronologie» auftretende Angst vor Scheitern wie auch Enttäuschungen im Nachhinein sind relevant.
Dieser Umstand wiederum bedingt den Zugang zu Möglichkeiten der Distanzierung zu Gunsten von Umdeutungsprozessen (Loslassen, Grenzen erkennen etc.).
Hilfreich wären demnach «reflexive Unterstützungsinseln» (teilweise firmenintern, um organisationales Lernen zu ermöglichen, teilweise – wenn Anonymitätsschutz notwendig ist – ausserhalb der eigenen Organisation, zum Beispiel durch Peer-Intervisionsstrukturen), welche der emotionalen Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen Platz schaffen und akkommodative Umdeutungsprozesse ermöglichen, dies, bevor die Arbeitsstelle gewechselt wird, werden muss oder die Pensionierung ansteht.
Arbeiten an persönlichen biografisch gewachsenen Verhaltensmustern
●Der Umgang mit Erfolgsdruck zeigt bei Ausbildenden, dass einerseits biografische Muster und andererseits strategische Vorgehensweisen zu mehr oder wenig hilfreichem Umgang mit Druck führen. Hier braucht es Arbeit an der eigenen Person, das Analysevermögen in Bezug auf eigene Verhaltenstendenzen. Dies heisst, begleitende Coaching-Formen benötigen immer Anteile von «Arbeit an der Person». Ein solcher Zugang benötigt Zeit und ist nicht effizient zu «erledigen» oder zu «lösen».
Klären von Kompetenzen, Rollen und Aufträgen
●Die adäquate Kompetenz-, Rollen- und Auftragsklärung helfen Ausbildenden dabei, Komplexität zu reduzieren. Ungeklärte Verhältnisse führen zu Scheitererfahrungen, Ohnmachtsgefühlen und Enttäuschungen. Hilfreiche Planungs- und Orientierungsinstrumente bieten innerhalb von Aus- und Weiterbildung, aber auch in begleitendem Coaching Unterstützung. Dies geschieht nicht im Sinne starrer Fixierung von Rollen und Aufgaben, sondern als Instrument steter Kalibrierung. Sie ermöglicht Versicherung von Klarheit und transparente Vereinbarung von nächsten Schritten.
Die Explikation von «gescheiterten Erfahrungen» und ausgeblendeten Prozessen sowie den Austausch darüber nenne ich in Anlehnung an Richard Sennett (2000, S. 159 ff.) «produktiv», weil sie in einem Gestaltungs- und Verarbeitungsprozess Reflexion und Handlung ermöglichen sowie Perspektiven eröffnen[1]. Auf den Begriff «produktives Scheitern» bin ich über einen Text auf der Basis eines Interviews mit dem Schweizer Komponisten Nadir Vassena (Baldassare 2000) gestossen, in welchem das Komponieren als tägliches produktives Scheitern beschrieben wird.
3.4Die Berufssozialisation von Lehrenden
Der Bereich berufliche Weiterbildung muss Berufsbiografie und damit die Berufssozialisation ins Auge fassen.
Sozialisation wird als produktive Verarbeitung von innerer und äusserer Realität verstanden (vgl. Hurrelmann/Bauer 2018, S. 98). Sozialisation ist damit ein Prozess der Entstehung und Entwicklung menschlicher Persönlichkeit, der abhängt von und sich auseinandersetzt mit den sozialen und materiellen Lebensbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt