Prozessberatung für die Organisation der Zukunft. Edgar H. Schein

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Prozessberatung für die Organisation der Zukunft - Edgar H. Schein

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erwartet oder was sie für sicher halten. Ist das Klima dagegen von Vertrauen geprägt, werden die Befragten den Kontakt mit dem Berater als eine Gelegenheit sehen, sich ihren Kummer von der Seele zu reden, was zu einer Übertreibung der bestehenden Probleme führen kann. Wie dem auch sei, verwendet der Berater nicht viel Zeit darauf, die Abteilung selbst zu beobachten, wird er kein genaues Bild von den Vorgängen erhalten.

      Ein weiteres Problem dieses Modells, das dem eben beschriebenen in nichts nachsteht, ist die häufig auftretende mangelnde Bereitschaft des Klienten, die Diagnose des Beraters ernst zu nehmen oder sich von seinen Abhilfemaßnahmen überzeugen zu lassen. In den meisten Organisationen finden sich wahrscheinlich ganze Schubladen voll mit Beraterberichten, die entweder vom Klienten nicht verstanden oder nicht akzeptiert wurden. Falsch gelaufen ist dabei natürlich, dass der Arzt es versäumte, einen gemeinsamen Bezugsrahmen mit seinem Patienten aufzubauen. Sie haben es nicht mit einer gemeinsamen Wirklichkeit zu tun. Falls der Berater mit der Diagnosearbeit beschäftigt ist, während der Klient passiv darauf wartet, sein Rezept ausgehändigt zu bekommen, wird sich mit ziemlicher Sicherheit ein Kommunikationsgraben zwischen den beiden auftun, der Diagnose wie Rezept irrelevant oder unverdaulich erscheinen lässt.

      Selbst die wirklichen Ärzte im weißen Kittel erkennen immer mehr, dass Patienten nicht automatisch ihre Diagnose akzeptieren oder ihren Anweisungen Folge leisten. Am offensichtlichsten wird dies in kulturüberschreitenden Zusammenhängen, in denen Annahmen darüber, was eine Krankheit ist oder welche Maßnahmen sie erfordert, von Kultur zu Kultur differieren können. Auch in der Behandlung bei Brustkrebs wird dies zunehmend deutlich. Hier bezieht der Onkologe die Patientin verstärkt in die Entscheidung mit ein, ob die ganze Brust oder nur der Knoten entfernt wird und ob sie sich im Anschluss an die Operation einer Chemotherapie oder einer Bestrahlung unterzieht. Bei Schönheitsoperationen oder wenn die Entscheidung ansteht, ob eine Bandscheibenoperation nötig ist, wächst den Erwartungen und dem Selbstbild des Patienten eine ähnlich entscheidende Rolle zu, wenn bestimmt werden soll, wie erfolgreich die Operation letztendlich war. Wenn wir schon eine Version des Arztmodells aus dem medizinischen Bereich wählen, sind wir mit dem psychiatrischen Modell besser beraten. Denn hier zählen die Analyse des Widerstands und der Abwehrhaltung zu den entscheidenden therapeutischen Werkzeugen.

      Das dritte Problem dieses Modells liegt darin, dass in menschlichen Systemen, mehr noch: in allen Systemen, der Diagnoseprozess selbst eine Intervention mit unbekannten Folgen darstellt. Werden in der Chefetage Persönlichkeitstests und in Teilen der Organisation Meinungsumfragen durchgeführt und die Mitarbeiter dabei zu ihrer Wahrnehmung des Unternehmens interviewt, beginnen sich diese zu fragen, was in ihrem Betrieb los sein könnte, dass Berater in das Unternehmen geholt werden. Obwohl sich der Berater keiner Schuld bewusst ist, kommt der Angestellte vielleicht zu dem Schluss, dass die Geschäftsführung das Unternehmen umzustrukturieren und Leute zu entlassen gedenkt. Der Berater tut sein Bestes, geht bei den Tests und Umfragen nach allen Regeln der Wissenschaft vor, doch der Angestellte empfindet das möglicherweise als Eindringen in seine Privatsphäre, gegen das er sich vielleicht sogar mit anderen Angestellten verbündet, wodurch sich die Beziehungen innerhalb der Organisation verändern. Ironischerweise legen die ausgetüftelten Vorsichtsmaßnahmen, die die Anonymität einer Umfrage gewährleisten sollen – indem man die Bögen z.B. an eine neutrale Partei schickt –, ein Misstrauen innerhalb der Organisation nahe, das als eine weitaus signifikantere Realität aufgefasst werden kann, als die Erhebung selbst vielleicht vermuten lässt.

      Ein viertes Problem bei dem Arzt-Patient-Modell liegt darin, dass der Patient selbst bei einer validen Diagnose und Verschreibung vielleicht nicht in der Lage ist, die empfohlenen Änderungen durchzuführen. Was im Kontext einer Organisation wohl das häufigste Problem ist. Nicht selten liegt es für den von außen kommenden Berater auf der Hand, was zu tun ist, aber die Kultur des Unternehmens, seine Struktur oder seine Politik verhindern eine Umsetzung der Empfehlungen. Vielfach entgehen dem Berater diese kulturellen und politischen Strömungen, bis seine Empfehlungen zurückgewiesen oder unterlaufen werden. Doch dann kann es für eine echte Hilfe bereits zu spät zu sein.

      Anders ausgedrückt, das Maß, in dem das Arzt-Patient-Modell funktioniert, hängt von folgenden Faktoren ab:

      1. Inwieweit hat der Klient genau definiert, welche Person, Gruppe oder Abteilung tatsächlich krank oder therapiebedürftig ist.

      2. Inwieweit ist der Patient motiviert, genaue Auskünfte zu geben.

      3. Inwieweit akzeptiert der Patient die Diagnose, zu der der Arzt gelangt, und die von ihm empfohlene Verschreibung.

      4. Inwieweit werden die Konsequenzen der Diagnoseschritte genau verstanden und akzeptiert.

      5. Inwieweit ist der Patient zu den empfohlenen Änderungen fähig.

      Die Prozessberatungsalternative

      Der Prozessberatungsmodus dagegen konzentriert sich nicht ausschließlich auf eine gemeinsame Diagnose, sondern sieht einen weiteren Schwerpunkt in der Weitergabe der Diagnose- und Problemlösungskompetenz des Beraters an den Klienten. Möglicherweise erkennt der Berater bereits sehr früh im Verlauf seiner Arbeit das eine oder andere Problem in der Organisation und wie es gelöst werden könnte. Aber er wird aus zwei Gründen diese Erkenntnisse vorerst für sich behalten: (1) Er könnte sich irren. Falls er vorschnell zu einer falschen Diagnose gelangt, kann er in den Augen seines Klienten an Glaubwürdigkeit verlieren und ihrer gemeinsamen Beziehung schaden. (2) Ihm ist klar, dass selbst wenn er recht hat, der Klient mit Abwehr reagieren kann und vielleicht nicht zuhören oder das Gehörte abstreiten oder missverstehen will, was eine Therapie behindern würde.

      Eine wesentliche Grundannahme der Prozessberatung ist, dass der Klient lernen muss, das Problem selbst zu erkennen, indem er an dem Diagnoseprozess teilhat, und dass er sich bei der Entwicklung einer Behandlungsstrategie aktiv beteiligt. Der Klient muss involviert werden, da der Diagnoseprozess selbst bereits eine Intervention darstellt und der Klient letztendlich für jede Intervention die Verantwortung zu übernehmen hat. Werden Tests oder Umfragen durchgeführt, muss der Klient die Gründe dafür verstehen und die Verantwortung für die Entscheidung, diese Erhebungen durchzuführen, übernehmen. Der Klient muss einem eventuell argwöhnischen Untergebenen erklären können, warum dies gemacht wird und warum ein Berater in das Unternehmen geholt wurde, wenn die beschriebenen Probleme nicht auftreten sollen.

      Dem Berater mag eine Schlüsselrolle zukommen, was die Ausarbeitung der Diagnose angeht, und er wird vielleicht dem Klienten Vorschläge zur Behebung der Probleme unterbreiten, auf die dieser nicht von selbst gekommen wäre, doch er beschränkt sich darauf, dem Klienten bei der endgültigen Entscheidung über die diagnostischen und therapeutischen Mittel lediglich den Rücken zu stärken. Dies geschieht wiederum aus der Überlegung heraus, dass die alten Probleme wohl gründlicher behoben und eventuelle neue Probleme vom Klienten selbst gelöst werden können, wenn dieser selbst lernt, die diagnostischen und therapeutischen Mittel einzusetzen.

      Des Weiteren gilt es festzuhalten, dass der Berater nicht unbedingt ein Experte sein muss, was die Lösung der zu entdeckenden Probleme betrifft. Ein ausschlaggebender Punkt bei der Entscheidung für den Prozessberatungsmodus ist, dass eine entsprechende inhaltliche Kompetenz weniger relevant ist als die Fähigkeit, den Klienten bei der Diagnose seiner eigenen Probleme zu beteiligen und ihm dabei zu helfen, eine seiner spezifischen Situation und seinen Bedürfnissen entsprechende Lösung zu finden. Der Berater braucht das Expertenwissen. Nur so kann er Hilfe geben und eine Beziehung mit den Klienten aufbauen, die Hilfe erst ermöglicht und gemeinsame Wirklichkeit entstehen lässt, ohne die eine Kommunikation unmöglich ist. Der in diesem Modus arbeitende Organisationsberater muss kein Experte sein, was Marketing, Finanzen oder Unternehmensstrategien anbelangt. Treten in diesen Bereichen Probleme zu Tage, kann der Berater dem Klienten bei der Suche nach einem entsprechenden Fachmann helfen und – was wichtiger ist – ihn dabei unterstützen, eine Strategie zu entwickeln, wie er sicher gehen kann, von diesen Fachleuten die gewünschte Hilfe zu erhalten.

      Das

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