Prozessberatung für die Organisation der Zukunft. Edgar H. Schein

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Prozessberatung für die Organisation der Zukunft - Edgar H. Schein

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Bittet mein Kind mich, ihm bei seiner Rechenaufgabe zu helfen, fühle ich mich versucht, umgehend nach einem Fehler zu suchen und diesen zu beheben. Erkundigt sich mein Freund nach einem Film, gebe ich ihm aufgrund meiner Annahmen, was ihm gefallen könnte, sofort einen Ratschlag. Bittet eine Studentin mich um Literaturvorschläge, die ihr bei ihrem Forschungsproblem weiterhelfen könnten, glaube ich sofort zu wissen, welche Art von Informationen sie benötigt und schlage ihre mehrere Bücher und Artikel vor. Wenn meine Frau mich fragt, was sie zu der Party tragen soll, bin ich überzeugt, über ihr Problem Bescheid zu wissen, und erteile ihr entsprechende Ratschläge. Die Versuchung, die Macht anzunehmen, die einem das Gegenüber durch die Bitte um einen Rat anbietet, ist überwältigend. Es bedarf in einem solchen Augenblick einer außerordentlichen Disziplin, um einen Augenblick innezuhalten und darüber zu reflektieren, was tatsächlich vor sich geht (sich mit der Realität auseinander zu setzen) und eine Frage zu stellen, die einen weiterbringt oder den anderen ermutigt, mehr zu erzählen, bevor man die Arztrolle übernimmt (die eigene Unwissenheit einzugestehen).

      Damit der Berater helfen kann, müssen beide, der Berater wie sein Gegenüber, beachten, dass das zu lösende Problem klar definiert ist und sie eine Kommunikationsebene geschaffen haben, auf der sie sich verstehen, damit sie dieses Problem gemeinsam und effektiv lösen können. Letztendlich ist es gerade das Ziel der Prozessberatung, solche Kommunikationsebenen zu schaffen, um eine gemeinsame Diagnose und eine gemeinsame Problemlösung zu ermöglichen.

      Die Tatsache, dass die Art und Weise, wie wir bei der Diagnose vorgehen, für das Klientensystem entscheidende Konsequenzen hat, lenkt den Blick auf ein viertes übergreifendes Prinzip. Wir müssen uns klar werden, dass das, was der Berater tut, stets eine Intervention ist. So etwas wie eine Diagnose an sich gibt es nicht. Die übliche Beschreibung einer Diagnosephase, an deren Anschluss Empfehlungen ausgesprochen werden, die sich in vielen Beratungsmodellen findet, ignoriert vollkommen die Wirklichkeit, dass der Interventionsprozess mit der Kontaktaufnahme mit dem Klientensystem beginnt. Unsere Vorgehensweise bei der Diagnose muss also aus dem Blickwinkel betrachtet werden, welche Konsequenzen unsere diagnostischen Interventionen haben und ob wir bereit sind, mit diesen zu leben.

      VIERTES PRINZIP

      Alles, was du tust, ist eine Intervention.

       So wie jede Interaktion diagnostische Informationen liefert, so birgt jede Interaktion Konsequenzen für den Klienten und für mich. Daher muss ich für alles, was ich tue, Verantwortung übernehmen und die Konsequenzen durchdenken, um sicherzugehen, dass sie meinem Ziel dienen, eine helfende Beziehung aufzubauen.

       3. Modell: Das Prozessberatungsmodell

      Ich will nun die Hauptthesen der – wie ich sie nenne – Prozessberatungstheorie oder des Prozessberatungsmodells zusammenfassen. Die folgenden Annahmen werden nicht immer standhalten. Doch wenn sie standhalten, wenn die Wirklichkeit für unser Gefühl am besten durch diese Annahmen beschrieben wird, dann muss die Hilfesituation im Prozessberatungsmodus angegangen werden.

      Klienten, ob es sich nun dabei um Manager, Freunde, Kollegen, Studenten, Ehegatten oder Kinder handelt, sind sich oft nicht über das eigentliche Problem im Klaren. Doch nur ihnen »gehört« das Problem.

      Klienten wissen oft nicht, in welcher Form Berater Hilfe anbieten. Man muss ihnen auf der Suche nach der für sie geeigneten Hilfe helfen. Klienten sind keine Experten in der Theorie und Praxis des Helfens.

      Die meisten Klienten besitzen ein konstruktives Interesse, ihre Situation zu verbessern, doch sie brauchen Hilfe, um festlegen zu können, was verbessert und wie es verbessert werden soll.

      Die meisten Organisationen könnten weitaus effektiver sein, wenn die Manager und Angestellten lernen, wie sie ihre eigenen Stärken und Schwächen diagnostizieren und mit ihnen umgehen können. Keine Organisationsform ist vollkommen. Also hat jede Organisation die eine oder andere Schwäche, für die es eine Kompensation zu finden gilt.

      Nur die Klienten wissen, was letztendlich in ihrer Organisation funktioniert. Berater können unmöglich ohne erschöpfende und zeitraubende Untersuchungen oder Präsenz in der Klientenorganisation genug über ihre Kultur lernen, um einen Katalog erfolgversprechender neuer Maßnahmen vorzuschlagen. Daher müssen solche Empfehlungen, falls sie nicht gemeinsam mit den Mitgliedern der Organisation erarbeitet werden, die wissen, was in ihrer Kultur Erfolg verspricht, notgedrungen falsch sein oder auf Ablehnung stoßen, da sie von einem Außenseiter kommen.

      Solange die Klienten nicht lernen, die Probleme selbst zu erkennen und an den Lösungen dafür zu arbeiten, ist es nicht wahrscheinlich, dass sie die Lösung umsetzen und lernen, solche Probleme in Zukunft selbst zu beheben. Der Prozessberatungsmodus bietet Alternativen, aber die Entscheidung über diese Alternativen gehört nicht in die Hände des Beraters, sondern in die Hände des Klienten, um dessen Problem es sich handelt.

      Letztendlich geht es bei der Prozessberatung darum, den Klienten das Diagnose- und Interventions-Know-how zu vermitteln, damit diese befähigt werden, die Organisation selbst sukzessive zu verbessern. In einem gewissen Sinne sind sowohl das Experten- wie das Arztmodell therapeutische Modelle, wogegen das Prozessberatungsmodell sowohl therapeutisch als auch präventiv arbeitet. Das Sprichwort »Statt den Menschen Fische zu geben, sollte man ihnen das Fischen beibringen« bringt diesen Ansatz ziemlich genau auf den Punkt.

      An dieser Stelle unterscheiden sich die Modelle ganz klar insofern von einander, als das Experten- und das Arztmodell sich mit dem Single-loop- oder adaptiven Lernen vergleichen lassen, wogegen Prozessberatung den Klienten in Double-loop- oder generatives Lernen verwickelt. Ein Ziel der Prozessberatung ist es, die Klienten das Lernen zu lehren. Im Experten- und Arztmodell wird das Problem behoben; Ziel des Prozessberatungsmodells ist es, die Lernfähigkeit des Klientensystems zu erhöhen, damit es zukünftige Probleme selbst lösen kann.3

      Der Prozess des Helfens sollte stets im Prozessberatungsmodus beginnen, da wir, solange wir uns nicht erkundigt haben und uns im Zustand der Ignoranz befinden, tatsächlich nicht wissen, ob die obigen Annahmen standhalten oder ob es sicher oder wünschenswert wäre, in den Experten- oder Arztmodus zu wechseln. Sobald wir mit dem Sammeln von Informationen angefangen haben, werden wir feststellen, dass es für die Entscheidung, ob es besser ist, in der Prozessberatungsrolle zu bleiben oder in einen anderen Modus zu wechseln, hilfreich ist, das Problem des Klienten auf seine Eigenschaften hin abzuklopfen.4 Sind sowohl Definition wie Lösung des Problems klar, ist das Expertenmodell angemessen. Ist die Problemdefinition klar, aber nicht die Lösung, muss der Arzt mit dem Patienten arbeiten, um die richtige adaptive Reaktion zu entwickeln, die auf das technische Know-how des Patienten zurückgreift. Sind weder Problem noch Lösung klar, muss der Helfer sich zu Beginn auf die Prozessberatung stützen, bis offenkundig wird, was genau vorgeht, welche Hilfe benötigt wird und wie sie am besten zu bekommen ist. Die Entscheidung, ob ein technischer Eingriff oder eine adaptive Reaktion vonnöten ist, hängt dann davon ab, in welchem Ausmaß der Klient oder Ratsuchende seine Einstellungen, Werte und Gewohnheiten zu ändern hat.

      Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf können wir Prozessberatung definieren:

      Prozessberatung ist der Aufbau einer Beziehung mit dem Klienten, die es diesem erlaubt, die in seinem internen und externen Umfeld auftretenden Prozessereignisse wahrzunehmen, zu verstehen und darauf zu reagieren, um die Situation, so wie er sie definiert, zu verbessern.

      Prozessberatung konzentriert sich zu Beginn auf den Aufbau einer Beziehung, die es Klienten und Berater erlaubt, sich mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen, die Wissenslücken des Beraters füllt und das Vorgehen des Beraters klar als Intervention einstuft. Dabei steht stets die Einsicht der Klienten in die Prozesse im Vordergrund, die um sie herum, in ihnen und zwischen ihnen und anderen ablaufen. Auf der Grundlage solcher

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