Mehr Mut, Mensch!. Lorenz Wenger
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Alleine-Sein verheißt nichts Gutes
Vor ein paar Jahren durfte ich mit einer internationalen Führungsperson zusammenarbeiten, die mich wegen Entscheidungsfindungs-Themen rund um ihr Unternehmen aufsuchte. Nennen wir diese Person Herr Belfort. Während des Gesprächs erwähnte der gestandene Manager beiläufig in einem Nebensatz, dass er seit Jahren Angst habe, alleine zu sein. Herr Belfort hatte sich über lange Jahre Strategien zur Kompensation seiner ängstlichen Zustände zurechtgelegt und diese so sehr perfektioniert, dass kaum jemand seine Befindlichkeiten bemerkte. Er ließ sich von seinen Mitarbeitern zum nächsten Meeting fahren, seine Frau holte ihn täglich von der Arbeit ab, ja sogar beim Einkaufen brauchte Herr Belfort die Begleitung seiner Frau oder Tochter. Wenn er eine Konferenz besuchte, nahm er jedes Mal kurzfristig und »ganz spontan« eine Begleitperson mit. Was ihn dabei am meisten beunruhigte war nicht das Alleine-Sein an sich, sondern dass ihn die Angst, alleine zu sein, jederzeit überkommen könnte und er keine Kontrolle über sich selbst hätte. Es war also die Angst vor der Angst, die ihn heimsuchte!
Während unserer Zusammenarbeit tauchten wir tiefer ein und stießen sehr bald auf den auslösenden Grund seiner Angst. Herr Belfort hatte in der Vergangenheit ein traumatisches Erlebnis gehabt, das ihn zu der Überzeugung brachte, dass alleine zu sein ganz und gar nicht gut für ihn war. Seine Angst konnte klar einem bestimmten Ereignis zugeordnet werden, das maßgeblich daran beteiligt war, dass er seine Angst vor dem Alleinsein über Jahre hinweg antrainiert hatte. Herr Belfort saß in jungen Jahren alleine in seiner Wohnung auf dem Sofa, als das Telefon klingelte und man ihm mitteilte, dass sein Vater völlig unerwartet aus dem Leben gerissen worden war. In diesem Moment brach die Welt von Herrn Belfort zusammen. Seine damalige Einsamkeit beim Erhalt der schrecklichen Nachricht führte dazu, dass er von da an unbewusst davon überzeugt war, dass alleine zu sein absolut nichts Gutes verhieß. Von da an vermied Herr Belfort also konsequent alle Situationen, in denen er eventuell alleine sein könnte und konditionierte sich selbst auf unbewusster Ebene bis hin zur unerkannten Perfektion. Eine Erinnerung, welche sich unbewusst in sein Denksystem einnistete, um sich selbst zu schützen. Seine von da an antrainierte Strategie sah so aus, Situationen zu vermeiden, in denen er auch nur ansatzweise alleine sein könnte.
Wir arbeiteten gemeinsam punktuell an mentalen Strategien, damit er einen besseren Umgang mit seiner Angst vor dieser Angst fand. Bereits in unserer vierten Coaching Session fiel mir auf, dass seine Frau und Tochter ihn nicht begleiteten, wie die letzten drei Male. Als ich nach ihnen fragte, meinte er lakonisch, dass die beiden nun alleine zuhause seien. Er müsse ja schließlich üben und es sei ihm mit den gemeinsam erarbeiteten Mentalstrategien gut gelungen, den Weg zu mir alleine einzuschlagen. Er sei sogar schon alleine im Wald laufen gewesen, erzählte er begeistert. Die Angst sei zwar immer noch da, doch er gehe ganz anders damit um. Sie sei nicht mehr so groß und bedrohlich. Mit Hilfe von einfachen Gedankenspielen, imaginären Begleitpersonen, bestimmten Musiktiteln im Auto und schrittweisen neuen Erfahrungen gelang es ihm, sich sukzessive von seiner Angst zu befreien. Herr Belfort hatte herausgefunden, wo seine Angst saß und wurde auf diese Weise frei. Es war außerdem seine Grundlage, um noch bessere, mutigere Entscheidungen in seinem Unternehmen zu treffen.
Es muss nicht immer gleich eine Todesnachricht sein. Wie Herrn Belfort geht es vielen von uns auch mit alltäglichen Erfahrungen, erlebten Ereignissen und Begegnungen. Ob wir wollen oder nicht, wir bewerten jede Situation aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen und aktivieren unser internes, natürliches »Google-System«. Wir suchen unbewusst nach Referenzerfahrungen, ähnlichen Ereignissen in unserer Vergangenheit, beurteilen Gemeinsamkeiten bisheriger Begegnungen und bisheriges Wissen. Wird ein bestimmtes Ereignis, eine Erfahrung mit starken Emotionen beladen, erinnern wir uns später daran. Bewusst oder unbewusst. Sind dies negative Emotionen, wie Ekel, Wut, Neid, Angst, Panik, Ohnmacht, Trauer, Scham, kann es gut sein, dass wir von nun an eine Vermeidungsstrategie fahren, um in Zukunft solche und ähnliche Ereignisse um jeden Preis zu vermeiden, bis hin zur Überkompensation wie bei Herrn Belfort.
Überprüfen Sie Ihre Wahr-Nehmung
Auch Sie haben bestimmt schon unzählige Male die Metapher vom berühmt-berüchtigten halbvollen oder halbleeren Glas gehört und wissen daher genau, dass wir in kritischen Momenten nur einfach mal schnell positiv denken müssten! Das ist für viele Menschen jedoch viel einfacher gesagt, als gedacht. Wenn jemand gerade »den Blues hat« und einfach nicht gut drauf ist, bringen diese beliebten Metaphern, Kalendersprüche und Motivations-Parolen wenig bis nichts. Im Gegenteil, sie nehmen die aktuelle Gemütslage der Betroffenen nicht ernst und bagatellisieren die Situation, was nur noch zu stärkerer Abwehr und schnellerem Rückzug führt. Wir alle bewerten Situationen nun mal auf unterschiedliche Art und Weise. Das hatten wir schon so bei den Ängsten – Sie erinnern sich? Was wir wahrnehmen und somit auch als wahr annehmen, hängt primär von unserem ureigenen Repräsentationsystem ab, also unseren fünf Sinneskanälen und anschließend von unserer Bewertung und Abgleichung bisheriger Erfahrungen. Dieser Abgleich geschieht meist unbewusst und innerhalb von Millisekunden. Bevor wir uns im nächsten Teil dieses Buches mit der Bewertung beschäftigen, möchte ich mit Ihnen kurz in die Welt unserer fünf Sinneskanäle eintauchen:
Sehen (visuell), hören (auditiv), fühlen (kinästhetisch), riechen (olfaktorisch) und schmecken (gustatorisch). Wir erleben die Welt um uns aufgrund dieser fünf klassischen Sinne. Es sind quasi unsere Antennen, respektive die fünf Tore zu unserer Wahrnehmung und Interpretation. Abhängig davon, ob wir etwas nur sehen, nur hören oder beides zusammen, erleben wir es unterschiedlich intensiv. Als 1895 die Gebrüder Lumière im »Grand Café« in Paris den ersten öffentlichen Stummfilm zeigten, war das für alle Zuschauer sicherlich ein intensives Erlebnis und Spektakel zugleich. Über die Jahre nahm die Intensität der Filme in unseren Kinos zu: Es kam der Ton dazu, die Farbe, heute sogar die 3D-Brille, spürbare Bewegungen der Kinosessel, Luftböen und Wassertropfen im Gesicht und wahrnehmbare Gerüche.
Zu den klassischen fünf Sinnen kommen inzwischen weitere hinzu, wie beispielsweise das Gleichgewicht (Balance), das Temperaturempfinden und die räumliche Empfindung (Propriozeption), also wie wir unsere eigene Körperlage im Verhältnis zu einem Raum wahrnehmen. Die Wissenschaft spricht teilweise schon von bis zu dreizehn menschlichen Sinnen, wobei hierzu keine Einigkeit herrscht. Nun ist es so, dass wir uns bestimmte Sinne besser antrainiert haben als andere. Der visuelle Sinnesreiz ist bei den meisten Menschen der stärkste und liefert rund 80% aller Informationen, die wir im Gehirn verarbeiten, und beschäftigt rund ein Viertel unseres Gehirns.
Am Anfang meiner Selbstständigkeit begleitete ich ein größeres Projekt für eine Non-Profit-Organisation im Sehbehindertenbereich. Während dieser Zeit gewann ich einen Einblick in die tägliche Arbeit und Schulung von und mit sehbehinderten und blinden Menschen. Durch die starke Beeinträchtigung ihres visuellen Sinneskanals sind diese Menschen darauf angewiesen, ihre gesunden Sinneskanäle zu schulen und zu kompensieren, um so nicht nur in ihrem Alltag, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt bestmögliche Chancen zu erlangen. Eines Tages durfte ich einem erblindeten Ausbilder dieser Institution über die Schultern schauen, als er an seinem PC etwas vorbereitete. Aus den neben ihm stehenden Lautsprechern erklang eine für mich unverständliche, synthetische Roboter-Stimme. Nicht einmal die Sprache dieser Stimme konnte ich identifizieren. Es stellte sich heraus, dass der Ausbilder sein Bildschirmlesegerät auf ein Tempo von mehr als 400 Wörtern je Minute eingestellt hatte! Für mich war das natürlich viel zu schnell, ich verstand kein Wort, während der Ausbilder täglich in diesem Tempo Dokumente in Excel, Word & Co. hört, versteht und damit arbeitet. Ich war fasziniert und von größtem Respekt erfüllt! Ich fragte ihn, wie lange es dauern würde, das Bildschirmlesegerät in diesem Tempo zu verstehen. Er meinte, dass ein Anfänger mit ca. 150 Wörtern in der Minute startet und er als geübter Ausbilder einfache Texte bis auf 500 Wörter und mehr in der Minute verstehen kann. Dieses Beispiel zeigt beeindruckend auf, wie wir unsere Sinnes-Fähigkeiten gezielt trainieren und ausbauen können.
Um Ihre persönliche, facettenreiche