Mehr Mut, Mensch!. Lorenz Wenger

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Neben der Urangst vor Neuem, Ungewohntem und Unbekanntem gibt es jedoch auch gelernte Ängste. Jene Ängste, die wir uns antrainiert haben.

      Während unserer Zusammenarbeit tauchten wir tiefer ein und stießen sehr bald auf den auslösenden Grund seiner Angst. Herr Belfort hatte in der Vergangenheit ein traumatisches Erlebnis gehabt, das ihn zu der Überzeugung brachte, dass alleine zu sein ganz und gar nicht gut für ihn war. Seine Angst konnte klar einem bestimmten Ereignis zugeordnet werden, das maßgeblich daran beteiligt war, dass er seine Angst vor dem Alleinsein über Jahre hinweg antrainiert hatte. Herr Belfort saß in jungen Jahren alleine in seiner Wohnung auf dem Sofa, als das Telefon klingelte und man ihm mitteilte, dass sein Vater völlig unerwartet aus dem Leben gerissen worden war. In diesem Moment brach die Welt von Herrn Belfort zusammen. Seine damalige Einsamkeit beim Erhalt der schrecklichen Nachricht führte dazu, dass er von da an unbewusst davon überzeugt war, dass alleine zu sein absolut nichts Gutes verhieß. Von da an vermied Herr Belfort also konsequent alle Situationen, in denen er eventuell alleine sein könnte und konditionierte sich selbst auf unbewusster Ebene bis hin zur unerkannten Perfektion. Eine Erinnerung, welche sich unbewusst in sein Denksystem einnistete, um sich selbst zu schützen. Seine von da an antrainierte Strategie sah so aus, Situationen zu vermeiden, in denen er auch nur ansatzweise alleine sein könnte.

      Es muss nicht immer gleich eine Todesnachricht sein. Wie Herrn Belfort geht es vielen von uns auch mit alltäglichen Erfahrungen, erlebten Ereignissen und Begegnungen. Ob wir wollen oder nicht, wir bewerten jede Situation aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen und aktivieren unser internes, natürliches »Google-System«. Wir suchen unbewusst nach Referenzerfahrungen, ähnlichen Ereignissen in unserer Vergangenheit, beurteilen Gemeinsamkeiten bisheriger Begegnungen und bisheriges Wissen. Wird ein bestimmtes Ereignis, eine Erfahrung mit starken Emotionen beladen, erinnern wir uns später daran. Bewusst oder unbewusst. Sind dies negative Emotionen, wie Ekel, Wut, Neid, Angst, Panik, Ohnmacht, Trauer, Scham, kann es gut sein, dass wir von nun an eine Vermeidungsstrategie fahren, um in Zukunft solche und ähnliche Ereignisse um jeden Preis zu vermeiden, bis hin zur Überkompensation wie bei Herrn Belfort.

      Sehen (visuell), hören (auditiv), fühlen (kinästhetisch), riechen (olfaktorisch) und schmecken (gustatorisch). Wir erleben die Welt um uns aufgrund dieser fünf klassischen Sinne. Es sind quasi unsere Antennen, respektive die fünf Tore zu unserer Wahrnehmung und Interpretation. Abhängig davon, ob wir etwas nur sehen, nur hören oder beides zusammen, erleben wir es unterschiedlich intensiv. Als 1895 die Gebrüder Lumière im »Grand Café« in Paris den ersten öffentlichen Stummfilm zeigten, war das für alle Zuschauer sicherlich ein intensives Erlebnis und Spektakel zugleich. Über die Jahre nahm die Intensität der Filme in unseren Kinos zu: Es kam der Ton dazu, die Farbe, heute sogar die 3D-Brille, spürbare Bewegungen der Kinosessel, Luftböen und Wassertropfen im Gesicht und wahrnehmbare Gerüche.

      Am Anfang meiner Selbstständigkeit begleitete ich ein größeres Projekt für eine Non-Profit-Organisation im Sehbehindertenbereich. Während dieser Zeit gewann ich einen Einblick in die tägliche Arbeit und Schulung von und mit sehbehinderten und blinden Menschen. Durch die starke Beeinträchtigung ihres visuellen Sinneskanals sind diese Menschen darauf angewiesen, ihre gesunden Sinneskanäle zu schulen und zu kompensieren, um so nicht nur in ihrem Alltag, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt bestmögliche Chancen zu erlangen. Eines Tages durfte ich einem erblindeten Ausbilder dieser Institution über die Schultern schauen, als er an seinem PC etwas vorbereitete. Aus den neben ihm stehenden Lautsprechern erklang eine für mich unverständliche, synthetische Roboter-Stimme. Nicht einmal die Sprache dieser Stimme konnte ich identifizieren. Es stellte sich heraus, dass der Ausbilder sein Bildschirmlesegerät auf ein Tempo von mehr als 400 Wörtern je Minute eingestellt hatte! Für mich war das natürlich viel zu schnell, ich verstand kein Wort, während der Ausbilder täglich in diesem Tempo Dokumente in Excel, Word & Co. hört, versteht und damit arbeitet. Ich war fasziniert und von größtem Respekt erfüllt! Ich fragte ihn, wie lange es dauern würde, das Bildschirmlesegerät in diesem Tempo zu verstehen. Er meinte, dass ein Anfänger mit ca. 150 Wörtern in der Minute startet und er als geübter Ausbilder einfache Texte bis auf 500 Wörter und mehr in der Minute verstehen kann. Dieses Beispiel zeigt beeindruckend auf, wie wir unsere Sinnes-Fähigkeiten gezielt trainieren und ausbauen können.

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